Grafik zum Bedingungslosen Grundeinkommen

Die Berliner mal wieder

Nehmen die doch glatt das Eintreten für ein Bedingungsloses Grundeinkommen in ihr Programm auf. Oder fast: ein Positionspapier zu diesem Thema hat der Landesparteitag beschlossen.
Und das nach einer Diskussion, die sehr kontrovers geführt wurde, aber (geradezu piratenuntypisch) sachlich blieb.
Gerade diese Diskussion war es, die mich den ganzen Parteitag geniessen liess: Streitkultur war sichtbar, Fortschritt, der Wille, voranzukommen als Partei und auf dem Weg ins Parlament. Das ist so ein krasser Gegensatz gegen so vieles andere, was ich bei den Piraten erleben muss - selbst nach Abbestellen der Wortkloake namens „Aktive“, in die offenbar immer wieder Leute ihren Brechdurchfall (Experten sprechen von Logorhoe) entleeren.

Und wieder einmal zeigt sich, dass diese Idee, die in Berlin eine Mehrheit gefunden hat, offenbar Gemüter erzürnt.

Beim Piratenwiki-Benuter Wigbold lesen wir einen als Whitepaper betitelten Text, in Bayern (? nicht weiter geschaut, wie weit diese Gruppe reicht) gründet sich eine IG Celtris3 und der Berliner Pirate, der so ziemlich alles, was im LV eine Mehrheit findet, abzulehnen scheint, trollt ausnahmsweise nicht nur rum sondern liefert - vergraben in Verschwörungstheorien und Tiraden - ein wichtiges Argument für die Diskussion um die Finanzierung.

Besonders interessant finde ich nicht den besonders aussagefähigen Namen der IG gegen das BGE (wer würde mit „Celtris3“ nicht sofort BGE-Kritik verbinden?) sondern den Stil der Wiki-Seite von Wigbold: so strukturiert und sachlich kenne ich die Diskussionen bei den Piraten.

Mich hat ValiDOM auf die Seite hingewiesen, und mich um Stellungnahme gebeten, die hier erfolgen soll.

Fangen wir mit einem Gedankenexperiment an.
Ein Raum, gefüllt mit 50 politisch interessierten Erwachsenen, sei geschlossen.
Wir machen jetzt in Gedanken die Tür auf, sagen vernehmlich und deutlich „BGE - Bedingungsloses Grundeinkommen“ und dann wieder raus und die Tür zu.
Wir haben soeben ca. 70 verschiedene Vorstellungen erzeugt, wovon grad die Rede war und ca. 110 Vorstellungen davon, welche Intentionen wir verfolgen.
Der Begriff „BGE“ ist nicht scharf definiert, völlig verschiedene Vorstellungen davon, was es sein kann, wie es sich äussert und vor allem komplett verschiedene Vorstellungen davon, was es leisten soll gehen munter drüber und drunter.
O.a. Experiment zeigt, dass selbst eine einzelne Person mehrere Vorstellungen damit verbindet.

Das liegt zum einen an den verschiedenen Kontexten, in denen die Personen existieren.
Diese prägen verschiedene Denkweisen - der Ingenieur und der Dichter denken unterschiedlich, wie ich schon oft erlebt habe - und die Kontexte erzeugen auch verschiedene Wissens- und Erfahrungsstände.

Daneben haben wir den Aspekt der Differenz zwischen Innen- und Aussenwahrnehmung.
Bei den Piraten sehen wir das beim Thema Liquid Feedback sehr deutlich: viele der öffentlich lautstarken Ablehner von LQFB geben sich im direkten Gespräch sehr aufgeschlossen, ja als Befürworter zu erkennen.
Dabei treten dann häufig Sätze auf in der Art „ich habe es ja verstanden, aber die anderen (noch) nicht richtig“.
In der Folge aggregiert dann eine Gruppe (Sinus-Milieu will ich das noch nicht nennen) von LQFB-Gegnern, die alle im Grunde dafür sind, sich nur nicht trauen, das zu äussern, solange die anderen noch so doof sind. Na klar.

Die meisten von uns tragen permanent eine Maske, stellen nach aussen permanent etwas anderes dar, als sie innerlich fühlen, meinen und denken.
Ob es für dieses innere Shisma ein gesundes Mass gibt oder of das immer krank ist, müssen Psychologen klären, ich kann es nicht (Manfred Lütz schreibt in Irre, wir behandeln die falschen eine sehr gute Definition von „krank“ und „normal“ und mahnt seine Berufskollegen, nicht zu weit zu gehen beim „Behandeln“).
Tatsache ist, dass viele, wenn nicht wir alle, so einen Unterschied zwischen innerer und äusserer Wahrnehmung mit uns tragen.

Wieso tippe ich das alles und mute es dem geneigten Leser zu?
Weil beim Thema BGE, das eng mit dem Thema Sozialpolitik verknüpft ist und daher emotional fast genauso aufgeladen, die Diskrepanz besonders gross wird.

Vor allem werden beim Gegenüber, das eine andere Meinung vertritt, besonders schnell besonders finstere Motive verortet.
Oft genug nur Motive, die der Handelnde selber hegt und sich selbst nicht eingesteht.

Bei Wigbold beginnt die Diskussion damit, erst einmal den Begriff umzudeuten und dann diesen sonst nirgends verwendeten Begriff „bedingungsloses Geldeinkommen“ anzugreifen.
In der Tat ist Geld in der Wirtschaftstheorie im Grunde ein Schuldschein: wer einen Geldschein in der Hand hat, dem schuldet irgendwer irgendetwas, denn der Halter des Scheins hat dafür etwas verkauft.
Ein sehr nützliches Instrument, das Tauschhandel („Ich hätte da einen Tisch und 4 Stühle grad fertig getischlert - ich brauch drei Sack Kartoffeln, 4 Sack Mehl und ne Speckseite“ „Äh, ich bin Schmied, hier gibts nur Eisen“) sehr viel einfacher macht.
Solange Geld aus Münzen bestand, die einen Materialwert hatten (Kupfer, Gold...), war das auch nichts als Tauschhandel.
Die Schuldschein-Funktion kam erst später, eigentlich erst nach Aufgabe der Golddeckung der Währungen.

Aber im Grunde ist es richtig: ein Anspruch auf ein BGE ist immer ein Anspruch gegen andere. Als Anspruch gegen den Staat also ein Anspruch gegen die Gesellschaft als Ganzes.
Was daran allerdings so verwerflich sein soll, ist mir nicht klar. Gewaltmonopol des Staates, Steuern, Raumordnungsgesetz und auch das SGBII schaffen solche Ansprüche.
Die Bezeichung „bedingungslos“ ist aber völlig korrekt: derjenige, der den Anspruch stellt, muss dazu nicht erst Bedingungen erfüllen wie Aufgabe des eigenen Vermögens, Entmündigung bei der Arbeitssuche etc.

In den folgenden Abschnitten lesen wir wieder eine Menge Worte, aber wenig, das einer Reflektion standhält.
In der Tat würde eine umfassende Reform des Sozialstaates und des Steuerrechts (die ich beim Thema BGE für untrennbar halte), Ansprüche schaffen und „das Gemeinwesen belasten“.
Genau wie es Feuerwehr (und andere BOS-Dienste), Militär oder Strassenbau heute schon tun.

Die Selbstwidersprüche in der weiteren Argumentation seien nur an einem Beispiel gezeigt: da behauptet Wigbold zunächst, dass der Statt nicht eingreifen darf um im nächsten Satz dann gleich ein staatliches Eingreifen zu fordern:
„Die Würde des Menschen erlaubt keine aktive Intervention des Staates. Achtung und Schutz der Würde ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt!“
gefolgt von ein wenig Buzzwording zur Würde des Menschen.

Der Autor hat recht, wenn er den Stil der laufenden BGE-Diskussion kritisiert: da wir ständig mit „Grundrechten“ und „Menschenwürde“ in der Luft gewedelt, in der (irrigen) Hoffnung, das verschaffte den eigenen Forderungen nach einem Schlaraffenland mehr Gewicht.

Ja, doch, ich kann sehr genau erkennen, wenn ein „BGE-Befürworter“ eigentlich nur eine bequemes, anstrengungsloses Leben im Luxus für sich haben will - bitteschön verschafft durch Staatsgewalt gegen die Interessen aller anderen.
Wieso eigentlich muss ich genau hier an Bonuszahlungen an HRE-Manager denken? Keine Ahnung, wir waren ja bei den Sozialschmarotzern.
Also bei den Leuten, die keine Leistung erbringen, dafür aber Geld - und damit Ansprüche auf Leistung anderer - haben wollen.

Und mit den Sozialschmarotzern sind wir bei einem der Hauptargumente gegen BGE: „alle, die dafür sind, sind Schmarotzer“ spricht zwar keiner aus, aber gedacht oder zumindest gefühlt wird das viel.
Interessanterweise selten von Leistungsträgern aber häufig von Menschen, die keine Leitung erbringen, sich aber für Leistungsträger halten. Ich denke da grad an einen Ex-Chef, der - wäre er leistungsgerecht entlohnt worden - Geld von zuhause hätte mitbringen müssen.

In der Tat kann sich eine Gesellschaft nur einen gewissen Grad an Schmarotzertum leisten.
So wie ein Hund die Flöhe: solange das ein paar sind, kratz sich der Hund gelegentlich, angenehm ist das auch nicht, aber er kann damit leben, das Fell wärmt noch und das Blut kann neben den Flöhen auch noch den Körper versorgen.
Werden es aber zu viele, dann können die Flöhe den Hund komplett aussaugen - er stirbt.
Die deutsche Wirtschaft erinnert mich seit den 80ern (kurz vor der Vereinigungs-Cäsur, die alles durcheinandergequirlt hat) an einen Hund mit ein paar Flöhen zuviel. Und die Reaktion der „bürgerlichen“ Parteien darauf war: Fell roden, mehr Platz für Flöhe machen“, denn die waren schon so in der Überzahl, dass sie mit wärmendem Fell verwechselt wurden.

Noch ein Gedankenexperiment:
Ein Familienbetrieb - sagen wir eine Tischlerei - mit 20 Mann Besatzung ist in der Hand des „Alten Herrn“. Sohnemann ist grad mit dem Abitur durch und jetzt geht‘s raus ins Leben.
Von seiner Entscheidung für den weiteren Ausbildungsweg hängt jetzt viel ab.
Er könnte selbst eine Tischlerlehre machen, dann seinen Meister oder einen Bauingenieur dranhängen und dann - nach etwas Berufspraxis in einer Möbelfabrik und auf der Walz - in den väterlichen Betrieb eintreten.
Der Betrieb hätte dann einen Mann an der Werkbank mehr, einen erfahrenen Arbeiter der auch - das Erbe macht es ja zu „seinem“ Unternehmen - fleissig mitwirkt.
Oder er könnte BWL studieren, etwas Berufspraxis in einem Kombibetrieb aus Anwaltskanzlei und Steuerbüro sammeln und danach in den väterlichen Betrieb eintreten. Genauso fleissig und gewitzt wie sein Tischler-Alter-Ego oben.

Der eine Betrieb hätte eine erheblich bessere Produktivität: gleiche Kosten, ein Mann mehr an der Werkbank, mehr Expertise, mehr Flexibilität bei der Auftragsabwicklung.
Der andere Betrieb hätte einen Steuerexperten im Haus, der alle Tricks kennt, wie man hier noch was sparen, dort noch einen Chash-Flow optimieren, da noch eine Subvention abgreifen kann.
Und jetzt raten wir mal, welcher Betrieb überlebt und welcher untergeht. Oder zumindest massiv zu kämpfen hat.

Wigbold hat recht, wenn er feststellt, dass nicht Geld sondern Mitwirkung die Gesellschaft definiert.
Das anzuerkennen ist eine der grossen Leistungen der Piraten und das Profil gegenüber der FDP: diese definiert quasi alles über Geld und der Wert eines Menschen ist dort als Zahl auf dem Kontoauszug erkennbar.
Dem widersetze ich mich.
Deutlich.
Und daher bin ich für eine Reform des Sozialsystems, die massiv ist, die an die Wurzeln geht.
Das nenne ich im Moment BGE, denn aus der Ecke kommen die vernünftigsten Vorschläge für so eine Reform - zugegeben etwas versteckt zwischen utopischen Schlaraffenlandphantasien. Weit vernünftiger jedenfalls, als das, was ich von den Gegner grad zu lesen bekomme.

Weiter im Text.
Unser Autor Wigbold schreibt
Die BGE-Befürworter sehen im BGE mehr als ein monetäres Grundeinkommen. Sie wollen das BGE nutzen, um eine neue Gemeinschaft zu schaffen.
ohne das näher auszuführen.
Es stimmt zwar, aber ich lese hier einen Vorwurf mehr denn eine Feststellung. Daher wehre ich mich.
In der Tat schwebt mir eine andere Gesellschaft vor als ich sie aktuell vorfinde.
Als Knirps habe ich Solidarität erlebt, eine prägende Erfahrung: unser Bauernhof war abgebrannt, ich war fünf, und das ganze Dorf hat geholfen. Einfach so. Ohne Rechtsanspruch.
Später (3 Jahre später) kam ich dann nach Berlin. Grosse Stadt. Keine spürbare Solidarität.
Über Jahrzehnte habe ich geglaubt, dass die Institutionalisierung des Sozialsystems das Problem ist, da sie die Menschen der persönlichen Anteilnahme enthebt und so zu den kalten Zombies macht, die man erkennt.
Auch die modernen Übersteigerungen dieser Entwicklung - der Gesellschaftsentwurf der FDP sieht für mich immer nach einem Gegeneinanderleben aus, wenn vom „freien Spiel der Kräfte“ die Rede ist und jede Interaktion nur auf Marktniveau stattfinden darf - habe ich dem Kernproblem der Institutionalisierung zugeschrieben.

Und möglicherweise habe ich damit recht: Italien hat wenig Sozialsystem, weniger als wir. Dafür haben die Familien eine ganz andere Bedeutung.
Aber ist gemeinsame wirtschaftliche Not wirklich der Kitt, den wir in die Familien drücken wollen, damit die besser zusammenhalten?

Moment, zurück zu Wigbold.
Nachdem er die Weltenverbesserer enttarnt hat, kommt ein klarer Satz:
Dabei ignorieren sie die Eigenheiten des (Schuld-)Geldsystems genauso wie die Funktion der vertikalen Gewaltenteilung.
Und hier wirds echt lustig.
Das in dem Text schon gegenwärtige Buzzwording wird jetzt echt albern.
Da wird das BGE als Angriff auf die vertikale Gewaltenteilung misdeutet - und wenn es das wäre, wäre es vermutlich gut so, denn die Bürokratie in Deutschland ist ungeheuerlich.
Und als nächstes vermutet der Autor eine Privatisierung der Sozialsysteme - genau wie die Bertelsmänner sie betreiben und wie sie in Form der Tafeln schon erste Realität angenommen hat.
Übrigens ganz ohne BGE-Forderungen, Forderungen nach Abbau des Sozialstaates reichen diesen Leuten aus.
Mein Verhältnis zu den Tafeln ist gespalten.
An sich eine gute Sache, dass jemand freiwillige Arbeit organisiert um den Bedürftigen zu helfen. Selbst eine nebenstaatliche Bürokratie mit Bezugsrechten etc. könnte ich grad noch ertragen.
Aber konsequent zuende gedacht, als Wirtschaftsunternehmen gedacht...
Meine Mum hat Jahrzehnte in der Geriatrie gearbeitet, sie hat das ertragen (wie? Keine Ahnung, ich wäre nach 2, 3 Jahren fertig auf der emotionalen Bereifung) und sie hat auch den Niedergang ihrer Wirkungsstätte („das ist im Rahmen der Betrachtungen zur Wirtschaftlichekeit nicht mehr opportun“ Zitat Ende) grad noch erlebt, kurz vor der Rente.

Ja, in der Tat, so ein privatisiertes Sozialsystem wäre das Grauen.
Ja, die USA sind kein Vorbild sondern ein abschreckendes Beispiel.

Aber die Schlussfolgerung, eine „BGE“ genannte Reform des Sozialsystems würde das automatisch nach sich ziehen, erinnern mich nur an die reflexhaften Rufe „Sozialismus“ von Herrn Minister Westerwelle.

Vorschläge, das SGBII irgendwie zu retten und zu flicken, sind Vorschläge, Scheisse auf Hochglanz zu polieren.
Das geht zwar - die Mythbusters haben es gezeigt - aber macht eben keinen Spass.
Besser, leichter und solider erzielt man einen Glanz mit Metallen. Es müssen gar nicht Edelmetalle sein - das „Reichtum für alle“ der Linken aus dem Bundestagswahlkampf fand ich immer wieder lustig, was haben wir gelacht - auch Kupfer und diverse Sondermessings sehen poliert sehr schön aus.
Schöner als getrockneter Kuhmist allemal.

Die Piraten müssen sich auf eine Aussage zum Thema Sozialsystem festlegen. Jetzt. Nicht irgendwann später sondern auf dem Programmparteitag in Chemnitz.
Ich werde dabei dafür eintreten, dass wir statt eines sperrigen „umfassende Reform der Systeme zur sozialen Sicherung und Steuern als Gegengewicht zu marktgenerierten Schieflagen und leistungsungerechten Verteilungen“ lieber „BGE“ draufschreiben.
Und dann eben definieren, was das ist und was eben nicht.

Es ist nicht das Linke „Reichtum für alle“ Schlaraffenland. Denn das gibt es nicht
Es ist nicht „da ein Almosen“ Sozailablass-Bürgergeld der FDP.
Sondern ein Piratenkonzept.

Natürlich kann der Parteitag auch beschliessen, dass wir das aktuelle Sozialsystem total Klasse finden.
„Kein Job? Ingenieur? Wir hätten da eine nette Zwangsarbeit als Hausmeister, damit deine Kenntnisse garantiert veraltet und wertlos sind, wenn es doch wieder eine Stelle geben könnte“.

Der Parteitag kann auch die Ausrede beschliessen, die anscheinend Tirsales vorschwebt.
Das wäre allerdings eine Katastrophe: eine „wir machen mal lieber nix“ Partei wähle ich nicht und viele andere auch nicht.


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Politik