und ewig grüßt

Update 27-Oct-2010: siehe unten.
das Murmeltier.

In Groundhog Day steckt Bill Murrays Rolle Phil in einer Zeitschleife fest und erlösen kann ihn nur, seine Selbstsucht aufzugeben und die Liebe einer Frau zu erringen (hier die umwerfende Andie MacDowell).
Das ist alles nicht real.
Würde Selbstsucht Menschen in eine Zeitschleife sperren, ein Grossteil der etablierten Politik steckte schon drin.
Möglicherweise ohne Aussicht auf Erlösung.

Das Murmeltier der Piraten ist das Liquid Feedback System.
Oder auch nicht das Murmeltier, das immer wieder auftaucht, es ist mehr wie ein Diskurs-U-Boot.
Wir haben über einzelne Manager bei einem früheren Arbeitgeber gern gespottet „er ist wie ein U-Boot: meistens nicht zu sehen oder zu hören, taucht nur überraschend auf und wenn er auftaucht, dann richtet er grossen Schaden an“.
Der Vergleich hinkt natürlich, denn U-Boote richten den Schaden vor allem getaucht an.

Für Diskussionen unter Piraten ist das Haupt-U-Boot offenbar Liquid Feedback.
Immer wieder taucht das auf und dann gibt es Schaden.
Diskussionen entgleiten, Meinungen, Ansichten, Vorurteile prallen aufeinander und die Vernunft verkrümelt sich in den Winterschlaf wie Punxsutawney-Phil das Murmeltier.

Die Erwartungen daran, was Liquid Feedback ist und sein kann, gehen immer noch so weit auseinander, dass man bequem ein Sonnensystem hindurchschieben kann.
Für Fefe - kein Pirat - ist nur die totale Transparenz die Grundlage der Existenzberechtigung der Piraten und damit Liquid Feedback der Anker der Piraten in der Existenz.
Für ValiDOM - ein Pirat - ist genau diese Idee offenbar so böse wie Völkermord, sodass er die Verfechter der Transparenz in der Partei mit mordlüsternen Banden und Diktatoren vergleichen muss.
Kürzlich habe ich Sekor getroffen und nur weil wir recht sorgfältig das Thema Liquid Feedback vermieden haben, haben wir uns nicht in Rage geredet oder angeschrien - jedenfalls fühlte sich das so an.

Im Grunde mag ich fefe überhaupt nicht: der Mann hat mal ein Security-Hole in einer Software gefunden, die unter meiner Aufsicht als Qualitätssicherer stand und ich hatte das Loch übersehen. Es war keine echte Gefahr, aber mein Stolz war und ist extrem gekränkt. Bäh!
Wohl auch deshalb kommt mir die Position, die Fefe bezieht, sehr radikal und extrem vor.

Im Grunde mag ich ValiDOM und Sekor ganz gern, sehr sympathische Menschen, sehr aktiv und mit Einsatz, Geschick und Fleiss an der Arbeit für die richtige Sache: Piraten.

Aber dann kommt Liquid Feedback und wirbelt auch hier alles durcheinander.

Fefe argumentiert, dass der Verlust, den einige Gegner von Liquid Feedback (so auch ValiDOM) beklagen, kein Verlust ist, weil es nie da war: Anonymität hat es nicht gegeben.
Weniger radikal argumentiert Tarzun, wenn er feststellt, dass das Delegationssystem in Liquid Feedback nur dann Wirkung entfalten kann, wenn ein Teilnehmer am System eine Reputation aufbauen kann.
Wie bei Fefe läuft das darauf hinaus: ohne Namenshistorie kann ein Teilnehmer keine Reputation aufbauen und damit wäre LQFB sinnlos. Bzw. es wäre eben nicht mehr LQFB sondern etwas völlig anderes.
Vor allem wäre es nicht mehr neuartig sondern ein Abklatsch von Altbekanntem: Foren, Wikis, Newsgroups, alles leicht anders, alles aber ähnlich in einer Hinsicht: on the Internet, nobody knows your‘re a dog.

An der Stelle ist Liquid Feedback neu und anders und daher für ängstliche Naturen schwer zu kauen und komplett unverdaulich.
Im Liquid Feedback geht es gerade darum, dass die Akteure sich zu erkennen geben.

Das ist scheinbar im Widerspruch zur Verfassung (!) und auch scheinbar im Widerspruch zu den Prinzipien der Piraten.
Wenn man das Prinzip der geheimen Wahl isoliert betrachtet, dann scheint es so, als müsse auch die politische Willensbildung anonym erfolgen können.
Auch aus dem Datenschutz, speziell aus der besonderen Erwähnung von politischer Meinungsäusserung im BDDSG, kann man herauslesen, dass Anonymität bei der politischen Einflussnahme möglich sein sollte.

Diese Haltung höre ich bei vehementen und gemässigten Gegner des Liquid Feedback immer wieder heraus: Anonymität ist gut, daher erstrebenswert und ist das Ziel der Aktivität der Piraten.

Aber das ist für mich ein klarer Widerspruch zu meiner politischen Haltung.
Und auch zur Grundlage der Piraten.

Ich beklage immer wieder den bejammernswerten Zustand der politischen Kultur in unserem Land.
Dieser Zustand entsteht nicht durch die Ent-Politisierung der Bevölkerung, diese ist nur eine Auswirkung. Der Zustand entsteht durch Hinterzimmerpolitik.
Die Drahtzieher im Hintergrund sind anonym, sind nicht zu sehen. Woher eine Entscheidung kommt ist nur zu ahnen, nicht rückverfolgbar.
Beim Thema Stuttgart 21 kann man das schön verfolgen: wie kommt es eigentlich zu solchen Entscheidungen, wieso kann man die als demokratisch bezeichnen?
Georg Schramm (bzw. seine Figur Dombrowski - oder ist das schon ein alter ego?) bringt gern einen Punkt, der aber m.E. nicht genau im Ziel liegt.
In der Tat regieren Ackermänner, Macher von Nonnen und Springers dieses Land vielleicht mehr als die Bundeskanzlerin, aber doch nur, weil niemand mehr dem entgegentritt.

Denn die meisten Wählerinnen und Wähler sind desillusioniert und engagieren sich nicht einmal mehr so weit, dass sie einmal ein Kreuzchen machen gehen.
Und diese Nichtwähler will ich zu Piratenwählern machen.
Dazu muss ich aber darstellen, dass ich anders bin als die anderen Politiker, muss darstellen, wofür ich stehe.
ich muss also zu dem stehen, was ich tue, was ich sage und auch zu meinen Fehlern.

Mehr muss man auch nicht tun, wenn man an Liquid Feedback teilnimmt.
Und deshalb ist es mir unverständlich, wie jemand Pirat sein kann, eine Änderung der politischen Kultur wollen kann, aber nicht bereit ist, bei sich selbst damit anzufangen.

Und nochmal klar und auf die Gefahr hin, auf hunderte Schlipse zu treten: wer die alte politische Kultur von „verantwortlich sind immer andere, im Zweifel ,der Markt‘“ oder „was schert mich mein Geschwätz von gestern“ leben will, der soll das bitte bei der CDU oder CSU tun und nicht uns echten Piraten im Weg stehen. Pirat ist so einer jedenfalls meiner unmassgeblichen Meinung nach nicht.

Update 27-Oct-2010 Die Formulierung „uns echten Piraten“ hat offenbar viel Misfallen erregt, und ich merke jetzt, wie misverständlich sie war.
In der Tat wäre die Formulierung „echten Piraten“, ohne das „uns“, viel besser gewesen.
Ich bleibe aber im Kern dabei: wer Verantwortung immer bei anderen sucht und nicht selber übernehmen, wer nur aus dem Hinterhalt operieren kann und daher Anonymität braucht, ist für mich kein echter Pirat, denn da stehen Frauen und Männer an Deck, die Verantwortung für das eigene Tun und lassen übernehmen.

Die Angst vor der Entblössung, die das Treten ins Rampenlicht darstellt, kann ich absolut verstehen.
Ich kann jedes Minderwertigkeitsgefühl nachvollziehen und weiss aus eigener Anschauung, wie sehr das daran hindern kann, zu sich selbst und seinen Taten zu stehen.
Ich kann Euch diese Angst nicht nehmen - ich will das auch nicht.
Denn Piraten brauchen Mut.
Mut bedingt Angst: nur wer Angst hat, kann auch Mut haben (also Angst überwinden und trotz Angst das Richtige tun).

Keine Angst haben nur Dummköpfe, Leichtsinnige sowie humanoid gewordene Arroganz auf zwei Beinen.
Solcherlei brauchen wir bei den Piraten nicht, hier werden echte Menschen gebraucht, aber eben solche mit Mut.

Mut zur Wahrheit, Mut zur Öffentlichkeit und Mut auch zum Fehler machen, daraus lernen und weitermachen.

Den Krebs, der unsere Gesellschaft befallen hat, werden wir jedenfalls nicht bekämpfen, indem wir ihn nähren.
Und dieser Krebs ist genau die „ich war‘s nicht, jemand anders ist Schuld“-Haltung, die wir überall sehen.
Ob es der zwölfjährige Steppke ist, der als geschlagener Favorit von der Kartbahn kommt und seinem überlegen gefahrenen Bezwinger nur ein „mein Reifendruck stimmte ja auch nicht“ zu sagen hat oder ob es der Manager ist, der nach seinen katastrophalen Fehlentscheidungen einfach mal ein paar hundert Leute „wegen der angespannten konjunkturellen Lage“ entlässt: Schuld ist immer jemand anders. Ich doch nicht. Auf keinen Fall. Kann gar nicht sein.

Die Piraten brauchen Piraten, die den Mut zu sich selbst haben.
Und solche Recken haben auch in LQFB nichts zu befürchten sondern können damit nur gewinnen: Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Offenheit, Ehrlichkeit.

Was mich zum Schluss zu meinem Liebligswort bringt, weil es den gleichen Wortstamm hat.
(Grummel, auch das wieder massiv gefährlich, weil viel Pathos dabei. Aber auch Schiller war voller Pathos, warum sollte es mir schaden?): Ehre.
Die Ehrlosigkeit ist der Krebs unserer Gesellschaft.
Das Thema ist überall: Oliver Stones Vater war Broker, aber eben nicht wie seine Figur Gordon Gekko. Telepolis fragte ihn, wo der Unterschied ist.
Wo man hinschaut, das ist das Thema unserer Tage.
In der Politik sehe ich darin den Unterschied zur politischen Kultur eines Franz-Josef Strauss, eines Herbert Wehner oder (einer der letzten Helden) eines Rudolf Seiters.
(Grusel! Zweimal Union, und das mir! Schnell ein Ausgleich muss her) Auch Egon Bahr fällt mir ein und natürlich auch ein Willy Brandt, der für die Taten eines Guillaume die Verantwortung übernahm und zurücktrat.
Frage am Rande: wer traut Angela Merkel zu, zurückzutreten, sollte sich eine Person aus ihrem Büro als chinesischer Agent entpuppen? Ha!

Pathos, in der Tat, aber ist es nicht wahr?
Kommt der Verlust an Vertrauen in die Politik nicht genau von da her, weil die Bürger es spüren?
Ist nicht ein grosser Teil der Piraten genau deshalb in der Partei, weil genau das anders werden muss, soll Europa, soll Deutschland nicht komplett auf den Hund kommen?

Und dazu kann Offenheit in der politischen Willensbildung nur nützen, niemals schaden.
Sie ist ein Schritt auf dem Weg zur Ehrlichkeit.
Ein Schritt, der Mut erfordert.
Ein Schritt, der Piraten erfordert halt...

(Und jetzt muss ich nur noch den Mut zusammenbekommen, diesen Artikel wirklich zu posten.
Oh Mann, auch die eigene Medizin schmeckt bitter....)


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Politik