...So ein Grundsatzprogramm

Sollte man haben.
Macht sich immer gut für eine Partei.

Aber so ganz haben sich die Piraten noch nicht entschieden, ob sie eher Partei oder eher Bürgerbewegung sein wollen.

Und diese Entscheidung ist auch wirklich schwer: mit dem Wort „Partei“ assoziiert der Autor unmittelbar den muffigen Haufen Menschen, die an Pöstchen und Macht kleben wie die Fliegen an den Resten der Verdauung anderer Tiere.
Nicht eine Partei war es, die den Eisernen Vorhang zerrostete und den Menschen in der DDR (und anderswo) eine Chance auf Freiheit eintrug. Das war eher eine Bürgerbewegung, die sich da anno 1989 (oder auch: Ende der 80er des vergangenen Jahrhunderts. Kling doch schon grösser...) auf den Strassen Leipzigs oder anderer Städte herumtrieb. Interessantes Details am Rande: neulich sprach ich mit einem Ex-Kollegen, der aus der DDR stammt und heute in der CDU aktiv ist. Er meinte, dass man schon Mitte der achtziger absehen konnte, dass die DDR zuende geht.
Wir im Westen haben davon nicht viel gespürt. Ich würde mal sagen: das hat hier keiner geahnt, denn die DDR lag im blinden Fleck der Wahrnehmung: man wusste, dass sie irgendwie existiert (und wir Berliner wussten auch, in welcher Richtung man laufen musste, um da hin zu kommen), aber das war es dann auch. Was da drinnen - nein, „da drüben“ - vor sich geht, war nicht existent. In meiner Familie, die (leicht entfernte) Verwandschaft in Weimar und Jena hatte, war das jedenfalls nicht präsent.

Die Friedensbewegung der achtziger, die Umweltbewegung, das ist mir noch aus der Zeit des erwachendes politischen Bewusstseins - bei mir so die Zeit zwischen Pubertät und Abitur - bekannt. Mit grossem Bedauern erinnere ich mich an die groß- und elterlichen Verbote, mich da zu engagieren. Meine aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Grosseltern (zumindest im Geiste, Opa mit Jahrgang 1898 wörtlich) hatten wohl Angst, der Enkel könnte da in einer neuen 68er Bewegung landen und - oh Grusel! - freie Liebe oder - oh Doppelgrusel! - Kommunismus wollen.

Schön, dass meine Grosseltern, nach zwei von Deutschland angezettelten Weltkriegen, Politik, Nationalismus und Gewalt nicht mehr unterscheiden konnten und beim Wort Kommunismus vor allem die russischen Fußsoldaten vor Augen hatte, die das winzige Haus der Familie in Berlin-Nikolassee verwüsteten, kann ich verstehen.
Aber da fehlt mir doch was.

Abgeschwiffen. Schon wieder.
Grundsatzprogramm.
Oder auch: brauchen wir Piraten so etwas?

Wenn wir eine Partei sein wollen, dann brauchen wir genau das.
Man kann es verschieden nennen, aber die Initiativen zur Findung der Piratenidentität greifen mir zu kurz.
@Zeitweise et. al: das soll keine Kritik sein, Ihr macht da sehr gute und sehr wichtige Arbeit.
Und auf diesen Schritt muss der zweite folgen. Entweder wirklich schrittweise oder es sind nicht Schritte sondern separate Aspekte und dann mus beides gleichzeitig entwickelt werden.

Allerdings hängt das davon ab, wie sich die Piraten sehen - also wohl doch mit der ersten Kernfrage der Piratenidentität:
„Heinerich, wie hälst Du‘s mit der Religion?“ lautet die Gretchenfrage beim Dichterfürsten. Bei den ganz unfürstlichen Piraten eher:

Sind die Piraten Partei oder Bürgerbewegung?

Keine wirklich einfache Frage.

Einiges spricht für den Charakter als Partei: formell ist die Piratenparte genau das. Sie unterwirft sich damit dem Parteiengesetz.
Oder doch nicht so ganz: liest man die Satzung des Landesverbandes Nordrhein-Westfahlen zum Beispiel, dann wird schnell klar: so richtig Partei sein will Pirat nicht, das muss anders gehen.
(einen anderen wesentlichen Kritikpunkt an der NRW-Konstruktion vertage ich mal; nur soviel: zu dem Versuch, Entscheidung (durch die Crew) und Verantwortung (beim LV insgesamt) per Satzung zu trennen fallen mir viele Attribute ein, keines schmeichelhaft oder auch nur positiv; passt aber hervorragend in unsere Zeit: verantwortlich sind immer andere).

Zumindest hat sich die Piratenpartei von Anfang an als Partei gegründet, nicht als e.V. oder lose Gruppierung. Klar als Partei.
Doch seit der Gründung ist die Partei eine andere geworden: das rapide Wachstum in 2009 hat die Partei verändert. Neue Themen, neue Gedanken, neue Leute halt; diese sind der Partei beigetreten.
Mit welchem Ziel, mit welchem Gedanken - das ist die Frage, die sich eine Arbeitsgruppe beim Thema Piratenidentität stellen muss.
Was wollen die Piraten sein? Partei oder Bürgerbewegung?

Heinerich, mir graut vor Dir. Auch dem Dichterfürsten geklaut - der ist wenigstens lange genug tot, dass da keine urheberrechtlichen Ansprüche mehr bestehen.
Ich habe etwas Angst davor, was mit den Piraten passiert, wenn die Gretchenfrage immer deutlicher, immer klarer im Raum steht.

Denn eine Partei kann sich nicht leisten, dass ein „alle machen, was sie wollen, keiner was er soll aber alle machen mit“ die Arbeit lähmt.

Eine Partei ist ein Verfassungsorgan - nicht als solches benannt, aber diese Form der Organisation ist im GG geregelt, sie hat Verfassungsrang.
Eine Partei hat einen Auftrag.
Dieser ist im Prinzip auch erfüllbar, indem man nur Nabelschau betreibt; eine Partei, die sich im Wesentlichen mit sich selbst befasst, kann immer noch an der politischen Willensbildung mitwirken, den Auftrag also erfüllen.

Aber gemeinhin wird der Auftrag als einer verstanden, der auf ein anderes „innen“ gerichtet ist: das ganze Volk, die ganze Bundesrepublik Deutschland.
Aus Sicht der Partei ist das „aussen“.
Es muss also eine Aussenwirkung erzeugt werden.

Und genau dazu dient das Grundsatzprogramm.
Die Piraten haben es sich mit der Wahl ihres Namens ja bewusst schwer gemacht, als Partei wahr- und ernstgenommen zu werden. Bei nicht wenigen Deutschen schnappt beim Wort „Pirat“ sofort die Scheuklappe von der Position „Tunnelblick“ auf „volle Verdunkelung“ um.

Und das ist ein Problem.
Schliesslich sind die Piraten im Grundsatz eine Volkspartei.
Huch?
Waren die Piraten nicht diese single-issue Clientelpartei? Mit Internet und so?

In der Tat haben die Piraten aus meiner Sicht vor allem ein Thema: Freiheit. Also das, was uns die - ich zitiere mal ausnahmsweise Urban Priol, ausnahmsweise, nicht weil ich den Mann nicht mag, ich mag ihn sehr, sondern weil mir das Wort für den täglichen politischen Umgang an sich zu polemisch ist - was uns die Zonenwachtel geraden abzunehmen versucht.
Die Bundeskanzlerin redet zwar gern über Freiheit, aber ihrer Politik merke ich immer eine Abstammung von der SED an, bei der Freiheit eben nicht die Freiheit der Andersdenkenden (Rosa Luxemburg) war.

Aber selbst wenn die Ein-Themn-Partei Piraten nur das eine Thema „Internet“ hätten, wir wären immer noch Volkspartei im Wartestand.
Bei 38 Millionen DSL-Anschlüssen in Deutschland vertritt eine Partei mit der Klientel „Internet-User“ schon heute mehr Personen als die CDU-CSU Zweitstimmen mobilisiert.

Die Frage ist nur, ob die Piraten eine Volkspartei sein wollen.
Nein, das ist nicht der Kerni-Volli-Konflikt, der lässt sich bei Hinzunahme der Zeitachse leicht auflösen.
Es ist die Frage, will man Partei sein?
Eine (für Europa) oder 27?
Eine für Deutschland oder 16?

Oder eben doch eine Bürgerbewegung.
Was auch Vorteile haben kann und auch zu den Piraten passt.
Die etablierte Parteieinlandschaft hat die Politik in Deutshcland zu dem gemacht, was wir heute sehen und was Reinhard Mey schon 1986 auf dem Album „die grosse Tournee“ in Track 12 darstellt. Und was den Spiegel neulich zu einem Titelblatt mit der einwörtigen Schlagzeile „Aufhören“ brachte.

Wir wollen Politik anders machen. Das ist gut.

Das muss nicht - ja, das darf nicht - heissen, dass wir alles anders machen, nur um anders zu sein oder es anders zu machen. Das wäre nicht gut, das wäre schlecht.
Aber anders geht schon in die richtige Richtung: Freiheitlichkeit, echte Demokratie (mit Auswahl, Gegenkandidaten und so), orientiert am Menschen und nicht am Machtapparat (zu dem Lobbies, Finanzmärkte und Großindustrie wohl hinzugezählt werden müssen), das wäre schon radikal anders.

Aber irgendwie stehen wir noch immer in den Startlöchern.
Dabei ist der Startschuss gefallen: NRW und auch der Bund steuern auf Neuwahlen zu und wir haben verdammt wenig Zeit.

Nägel sind jetzt gefragt. Mit Köpfen. Und die machen wir bitte jetzt.
Genau jetzt: jetzt ist die Zeit zur Vorbereitung der Parteitage im Herbst, jetzt ist die Ferienzeit, wo die Tagespolitik ruhiger wird und uns Zeit übrig lässt.

Persönlich bin ich übrigens eher für Partei denn Bürgerbewegung und oute mich mal als Vollprogramm-Wünscher. Wobei Sorgfalt vor Schnelligkeit geht, da waren die Kollegen aus NRW wohl etwas zu forsch.

Dass die Zeit für Piraten reif ist, zeigt z.B. auch die Freie Union: in einem Affenzahn konnte diese „Splitterpartei“ Unterstützung einwerben und sich als Partei formieren.
Und zwar nicht wegen sondern fast schon eher trotz Gabriele Pauli, würde ich sagen.
Naja, das ist unfair, nein, Frau Pauli hat sicher viel zum Aufstieg der Freien Union beigetragen; und ihr vom Aus- gefolgter Rücktritt hinterlässt Spuren genau wie ihr Führungsstil.

Man kann zur Freien Union stehen, wie man will, aber das Beispiel zeigt, das die Menschen eine neue, eine andere, eine brauchbare Politik wollen.
Sollten die Piraten beim Kramen in ihren Herzen herausfinden, dass sie diese andre Politik anbieten wollen, dann sollten sie das tun.

Und dazu kann es sehr nützlich sein, wenn wir uns jetzt im Moment als Bürgerbewegung begreifen. Je mehr wir genau das sind, desto leichter wird es zu vermitteln sein, dass wir für die Bürgerinnen und Bürger eintreten und nicht nur ein Haufen rotznäsiger Kinder sind, die auch mal an die Fleischtöpfe wollen.
Und aus dieser Bürgerbewegung kann dann eine Partei entstehen, die die Parlamente aufmischt.


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Politik

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