kaputter Golf

zerkochtes Gemüt

Noch immer liegt die Leiche meines geliebten Golf auf dem Hof.
Und sie ist im Weg: der Trottel vom Abschleppdienst muss mehrere Stunden Berechnungen durchgeführt haben um zu ermitteln, an welcher Stelle des Hofes der unbewegliche Golf am hinderlichsten ist.
Und rechnen kann er: er hat die Stelle genau getroffen.

Das nervt total.
Aber mehr noch nervt etwas ganz anderes: ich habe noch immer ein Sammelsurium an Gefühlen und Gedanken im Kopf, das mich zusammen mit der Hitze nicht schlafen lässt.

Früher war alles besser.
Zumindest war vor wenigen Jahren das Leben noch einfach. Klar umrissen: morgends ins Büro, die tägliche Dosis Stress abholen, abends erschossen und gerädert nach hause, eine Dosis Randgruppenfunk (3Sat, Arte, ...) konsumieren und dann in einen komatösen Zustand verfallen, der von heftigen Halluzinationen begleitet ist, an die man sich tags darauf gottlob nicht erinnern kann.
Jedenfalls kann ich mich nur selten an Träume erinnern.

Stresssucht kann so einfach sein.
Strukturiert das Leben wunderbar und das beste: im Gegensatz zu Süchten nach Nervengiften (Ethanol ist schon toxisch, Nikotin viel mehr) gesellschaftlich anerkannt und akzeptabel. Der in der Sucht hilflos gefangene gilt nicht einmal als „kaputt“ und muss auch gar nicht kriminalisiert werden.
Will er aus der Sucht entfliehen, dann erscheint der Weg in eine andere Sucht besonders verlockend.
World Of Warcraft kann schnell zur Sucht werden; das Prinzip der instantanen Belohnung kombiniert mit Gruppendynamik (Raiding in wechselnden Besetzungen klappt nicht, feste Gruppen sind erheblich erfolgreicher), Mittel- und Langfristzielen reicht fast schon.
Hinzu kommt diese wunderbare Anonymität: on the Internet nobody knows, you‘re a dog. Besonders die Experten des „eine Fassade aufrechterhalten“, die Depressiven, unterstützt die Beschränkung der Kommunikationsmittel (nur Text, getippt) sehr.
Depressive können extrem gut einen Gesunden spielen. Selbst engste Vertraute und Lebenspartner bekommen dann nichts mit; so lange, bis der Innendruck der Person so weit angewachsen ist, dass die Fassade bersten muss.
Im Fall von Robert Enke haben wir ein prominentes Beispiel öffentlich verfolgen können: selbst seine Frau war entsetzt und konnte sich das Suizid nicht erklären.

Meine Entladungen sind weniger spektakulär.
Sie folgen einem Muster - und ich fühle mich gerade wieder hilflos ausgeliefert.
Das Muster ist so leicht zu erkennen, der Schlusspunkt bzw. Anfang des neuen Durchlaufs durch die Spirale liegt darin, Menschen an denen mir wirklich liegt, vor den Kopf zu stossen, zu verletzen, sie im Stich zu lassen.

Es ist entsetzlich: ich kann das Muster sehen, ich kann vorhersagen, was ich als nächstes tun werde, aber ich kann es nicht verhindern.
Zumindest fühlt sich das so an.

Grad kommt mir der Gedanke, dass ich das auf keinen Fall hier schreiben sollte: das ist immerhin öffentlich, wird archiviert und ist für immer nachvollziehbar.
Aber das ist wie mit dem Rest des Web: liest eh‘ fast keine Sau.
Nur Piraten-Mailinglisten haben wohl och ein schlechteres write-read-ratio als private Blogs wie dieses. Also ist auch das „öffentlich“ völlig relativ und völlig egal.

Ich muss zurück zur Situation. Konkret, Semken, keine Allgemeinplätze.
Konkret habe ich Sonntag meinen Austritt bei den Piraten für Montag angekündigt und dann am Montag nicht wahr gemacht.
Den Montag habe ich in meiner Garage gefühlt 100 Liter (tatsächlich ca. 4) Wasser durch meine Drüsen gepumpt und mit Hilfe des einen Ventilators, den ich habe, verdunstet.
Als Nebentätigkeit dazu habe ich ein paar Regale aufgestellt, etwas umgeräumt und so versucht, Platz zu schaffen, damit ich ein paar Piraten bewirten kann.

Ich fasse es selbst nicht: ich bin fest entschlossen, alles hinzuschmeissen, die Piraten zu verfluchen und in den Wind zu schiessen, möglichst viele möglichst stark zu verletzen - und gleichzeitig halte ich weiter an meiner Zusage fest, im Sommer ein paar Barcamps auszurichten. Ich muss völlig gaga sein.

Mir geht einfach der Artikel in der FAZ vom 19. Juni nicht aus dem Kopf.
Der Bericht über die Piraten war eher wohlwollend verfasst, aber ich, der ich die Situation von innen und ohne die journalistische Distanz kenne, stellt sich die Partei im Moment anders dar, als es die Autorinnen sehen.
Ich habe die Piratenpartei einmal als die letzte Verteidigungslinie der Demokratie in Deutschland bezeichnet: was die Alteingesessenen Parteien da veranstalten, Vorstandswahlen ohne Gegenkandidaten, Schäublesche Sicherheitsgesetze, vonderLeyensche Zensurgesetze (oder schlimmer: „Verträge“ mit Gesetzeswirkung), das ist doch zum Kot.. - äh - Rückwärtsessen.

Und da stehen die Piraten dagegen.
Die letzen Kämpfer für Freiheit, Vernunft, Wahrhaftigkeit in der Politik.

Oder eben nicht: aktuell sit mein Gefühl zu den Piraten ein anderes.
Auf deutsch: ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotze möchte.
Die Berliner Squad Grundsatzprogramm zum Beispiel.
Nicht nur, dass die sich offenbar nicht einigen kann, ob sie ein Grundsatzprogramm oder ein Wahlprogramm erstellen will, nein, die diskutiert - und ads ist inzwischen wohl die echte Bedeutung von „piratig“ - am liebsten auf der dritten Metaebene: mit welcher Methode man zu einem Entwurf kommen will, den man dann diskutieren könnte.

Aber am schlimmsten ist es aktuell da, wo tatsächlich die Arbeit gemacht wird, die eine Partei machen sollte.
Alle programmatische Arbeit (auch hier wieder das Berliner Grundsatzprogramm als Beispiel) lässt erkennen, wie extrem weise es war, sich von programmatischer Arbeit fernzuhalten.
Menschen, die ich im vergangenen knappen Jahr meiner Mitgliedschaft bei den Piraten sehr zu schätzen gelernt habe, entpuppen sich plötzlich als Radikale, an allen Ecken treffen harte programmatische Gegensätze aufeinander und reissen Gräben auf.
Gibt es überhaupt ein Thema, bei dem sich die Aktiven in Berlin einigen können? Wenigstens ein einziges? (das Sahnehäubchen wäre, wenn dieses auch noch ein Landespolitikthema wäre).
Die Wahrscheinlichkeit dafür tendiert gegen Null.

Und gibt es ein Thema, bei dem nicht jugendlicher Überschwang das einzig führende ist?
Finden wir bei den Piraten nur Radikalität oder gibt es Restmengen von Vernunft? Womöglich Abgeklärtheit?

Die Wahrscheinlichkeit dafür geht tatsächlich gegen Null.
Oder ist das wieder nur ein Fehlurteil, das ich gerade treffe, weil ich so im Tief hänge?
Aber wenn wir uns einmal ansehen, welche Sorte Mensch es zu den Piraten zieht und welche Sorte davon sich dann noch aktiv einbringt: es sind doch meist die, die so radikal sind wie ein zweifach ionisiertes Fluoratom.
Was soll dabei herauskommen?

Ich muss mich hier unterbrechen, sonst sabbel ich mich bloss wieder tiefer ins Tief und komm gar nicht mehr hoch.
Mal sehen, ob Experimente an Class-D-Verstärkern an 2V Versorgung Erfolgserlebnisse bescheren, die mich wieder aufrichten.


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