Bahnhof im Nebel

Ich versteh' die Welt nicht mehr

Unfassbar? Irgendwie stellt sich mein Kopf quer, wenn er „Frank Schirrmacher“ und diesen Kommentar zusammenbringen will. Das kann doch nicht wahr sein. Das Gefühl, schon lange (jaja, das kann jeder behaupten und wer glaubt mir das schon?) schon seit den 90ern gefühlt, gespürt, irgendwie im Urin gehabt zu haben, dass es eigentlich nur so kommen kann wie es 2008 dann auch kam - es ist ein schales Gefühl. Ausgelacht zu werden und dann recht gehabt zu haben - das ist besser als nur die Häme, aber immer noch schal.

Semken! Freu Dich! Denn ein Doofer war der Schirrmacher nie. Ganz sicher nicht. Er war eben nur verblendet von den plausibel klingenden „Wachstum wird‘s schon richten“-Predigten, die die Hohepriester der Wirtschafttheorie genannten Weltreligion nicht nur Sonn- sondern jedentags von den Kanzeln der Wirtschaftsforschungsinstitute in die Kanäle der öffentlich-rechtlichen Anstalten und anderer Weiterverwurster drückten. Volker Pispers bringt es so schön auf den Punkt „Wirtschaftsexperten: was blöderes finden Sie in keinem Tierpark“.

Ich kann das übrigens selbst gut nachvollziehen, wie man solchem Unfug auf den Leim kriechen kann. Als mein Arbeitgeber PSINet uns Angestellten anbot, einen Teil des Lohnes in Aktienoptionen umzuwandeln, war ich selber mit dabei. Unterschrieben habe ich die Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag an dem Tag, nachdem ich noch zu der Ansicht gekommen war, dass diese ganze New Economy Geschichte nur böse enden kann. Im Gespräch mit meinem Chef und meinen Kollegen so nach Schichtende im NOC waren wir übereinstimmend der Meinung, dass eine VALinux, die nach dem IPO eine Marktkapitalisierung hatte, die an IBM erinnerte - wenngleich ein gaaanz kleeeeiiin weeeenig weniger Umsatz - womöglich als Firma nicht ganz so viel wert sein könnte, wie der „Markt“ das einschätzte. Also: nichts gegen SourceForge, Geeknet und was sonst daraus geworden ist. Die Jungs und Mädels haben ja durchaus was geleistet, etwas auf die Beine gestellt und so.

Aber der 685% return-of-investment, den man mit VALinux-Aktien nach dem IPO machen konnte ist doch exemplarisch für das, was in der New Economy so New war: Nicht die Gewinnausichten der Firma bestimmten den Aktienpreis sondern die Börsengewinnerwartungen. „In diesem Kurs steck viel Phantasie“ ist ein Satz, den Analysten gern mal sagen. Ja, in der Tat: in den Kursen steckt Phantasie - und sonst nix.

Sei Jahren lamentiere ich: die BWL kann den Straftatbestand „Betrug“ eigentlich gar nicht fassen. In der BWL wir nach meinen bescheidenen Kenntnissen Leistung gemessen, indem man misst, wie viel Geld geflossen ist. Grundannahme dabei: der Geldfluss ist dem Leistungsfluss im Betrag gleich, nur die Richtung entgegengesetzt. Der völlig unterschiedliche Wert den eine Ware - sagen wir ein Glas Wasser - in verschiedenen Situationen hat - sagen wir: am Bachufer versus mitten in der Wüste - wird damit ganz plausibel gemessen: eine Ware ist wert, was der Kunde dafür zu bezahlen bereit ist.

Den Fall, dass eine Ware die Hand wechselt und eine Geldsumme in Gegenrichtung und dann doch ein Betrug vorliegt, kann die BWL also irgendwie nicht erfassen: der Geldfluss zeigt ja den Leistungsfluss an. Der Staatsanwalt dagegen muss das erfassen können, sonst kann er es dem Richter nicht erklären.

Zurück zu mir in 1999: na klar, VALinux und so, völlig überbewertet, aber wir doch nicht! Wir haben doch reale Umsätze, ein eigenes Netz (weltweit, mein Revier die thirty-odd POPs in Europa), Kunden, Wachstum und so. Da kann man schon mal die Aktien des eigenen Unternehmens kaufen, gerade zum Mitarbeiter-Vorzugspreis - klare Sache.

Dass unser tolles Netz uns gar nicht gehörte sondern praktisch komplett auf Lieferantenkredit finanziert war (Cisco und Lucent gewährten damals Zahlungsziele von 3 Jahren - mehr also als die typische Einsatzdauer von solcher Hightech), dass die vehemente Weigerung des Managements, eine Kostenrechnung einzuführen (jaaa, auch der Ingenieur hase hat sowas im Studium gelernt) nichts mit dem offiziellen Grund „das ist ineffizient und kostetn nur unnötig Personal“ zu tun hatte sondern mit dem Wissen des inner circle, dass dabei nur das verheerende Ausmass der Selbsttäuschung über unsere Geschäftsaussichten aufgedeckt würde, zu tun: ab einer gewissen Ebene wusste das Management offenbar, dass wir nur sicher pleite machen konnten.

Die fulminante Pleite der PSINet kam denn auch für uns untere Manager (ich war Abteilungsleiter) überraschend, selbst mein Chef hier in Europa hatte keine Ahnung.

Wir waren getäuscht. Hatten uns zum Teil selbst getäuscht, und wir hatten uns täuschen lassen. Hatte doch unsere amerikanische Muttergesellschaft in Europa lauter rentable, profitable, ja teilweise obszön profitable kleine ISPs gekauft. Es war nachgewiesen möglich, mit dem Transportieren kleiner Datenpäckchen Geld zu verdienen. Nur mit Aktien konnte man natürlich viel mehr verdienen - wenn man nur eine hübsche, grosse, grossspurige und glänzende Fassade aufbaute.

Was hat die Welt aus dem New Economy Crash gelernt?

Wir sehen es heute beim New Banking Crash: grosse Pumpen werden herangekarrt, C-Rohre in Stellung gebracht, Männer in speziell gefertigten Anzügen nehmen Positionen ein

Noch eine kurze Diskussion zwischen der Einsatzleitung und den einzelnen Zugführern, in welcher zeitlichen Reihenfolge der Angriff auf den Brand erfolgen soll, und dann geht es los. Kraftvoll und mit immer mehr Druck wird als Löschmittel Jet-A1 in Richtung des Brandherdes geworfen.

Ich kann Schirrmachers Kommentar nicht rückhaltlos unterschreiben, zu sehr verdreht oder verkennt er die Rolle der Kohl-Merkelschen CDU in der Sache. ich glaube nicht, dass die jetzt überrascht sind, was bei ihrem „wer Macht hat, hat Recht“-Kurs herausgekommen ist. Überraschend war höchstens, dass es noch in dieser Legislaturperiode aufgeflogen ist.

Und auch der Verlust des moralischen Handelns in der Politik ist nicht so neu, wie Schirrmacher das sich selbst wohl weismachen will. Am Anfang des Kommentars klingt noch ein Stück Selbsterkenntnis durch in „Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden. Dann beginnt der Zweifel an der Rationalität des Ganzen. Dann beginnen die Zweifel, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang.“ Gegen Ende aber verortet er das Problem in der aktuellen Tagespolitik.

Aber die als Politikverdrossenheit bezeichnete Stimmung der Bevölkerung, die Politikern nicht einmal gar nichts sondern sogar sehr viel zutraut, aber eben nur Schlechtes, ist ja nicht so ganz neu. Das Wort wird seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts verwendet - und auch ungefähr seit da hangelt sich die Wahlbeteiligung von einem Minusrekord zum nächsten. Das Ansehen eines Politikers rangiert inzwischen irgendwo zwischen Kleinkriminellem und Abmahnanwalt. Die Debatte um Manager-Gehälter ist auch nicht - wie die FDP mein - eine reine Neiddebatte, denn die Frage, warum Menschen mit negativer Produktivität (vernichten Arbeit anderer) dafür mehr bekommen als solche mit positivem Beitrag zum Arbeitsergebnis, ist eine klassische, auch der BWL zugängliche und sehr gute Frage.

Und aktuell Banker.

Die Frage ist nicht, wo das System „soziale Marktwirtschaft“ vom Wohlstandsbringer für alle oder wenigstens sehr sehr viele zum Selbstbedienungssystem für ein paar wenige verkommen ist. Auch ist uninteressant, wann dieser Erosionsprozess begonnen und wie er nach der CSU auch die CDU und SPD erfasst hat. Oder ob er die Grünen schon erreicht hat.

Die Frage ist nur: wie drehen wir Europäer das zurück? Wie beseitigen wir das jeder-gegen-jeden, das den wirtschaftlichen Äquivalenten von Anopheles, Siphonaptera oder HIV so schön Deckung bietet? Wie beseitigen wir die Grundhaltung „Nicht Politik verdirbt den Charakter: nur wer einen verdorbenen Charakter hat, befasst sich überhaupt damit“, die so viele Nichtwählerherzen in eisiger Umklammerung hält?

Und zwar ohne wie Schirrmacher die eigene Verantwortung für die Erosion einfach abzutun und jemand anders anzuhängen - wie er das am Ende seines ansonsten doch sehr lesenswerten Kommentars zu Moore tut.

Hmm. Ich glaube, ich verstehe die Welt doch noch einigermassen :-)


Published

Category

Politik