Jetzt nicht nachlassen

Irgendwie ist das Gefühl nach dem Wahlsieg der Piraten in Berlin immer noch wie ein Gemälde von Dalí: fotorealistisch nah an der Wirklichkeit aber komplett surreal. Eine gute Woche ist rum und irgendwie habe ich das noch nicht verdaut. Die LINKE - oder jedenfalls ein kleiner Teil davon - denkt nun nach, wie sie die Piraten kopieren kann. Piraten wissen: Kopie ist wohl die höchste Form der Anerkennung. Und hier kann man wieder schön erleben, wie gross der Einfluss dieser Ein-Themen-Splitterpartei-aus-dem-Netz im Grunde schon ist. War bei Renate Künast die Kopie noch sehr mislungen, darüber habe ich mich schon geäussert, die LINKE könnte jetzt richtig ernst machen. Sie ist in der Opposition gelandet, damit entfallen einige Verpflichtungen, die sich aus jeder Koalition wie auch aus der Regierungsverantwortung ergeben. Sie ist ausserdem - hmm. hier darf das Wort „verzweifelt“ nicht auftreten, wie nenn‘ ich das jetzt .... ah! ja! - unter Druck, denn Wähler könnten nächstes Jahr massenhaft zu den Piraten abwandern. Denn auch im Bund will Bürger/Wähler/Mensch inzwischen etwas anderes als den gewohnten Mist.

In dem oben verlinkten Papier erkennt die LINKE diverse Knackpunkte ganz richtig.

Zum einen, dass es vor allem der Politikstil ist, der uns Deutschen auf den Keks geht. Das äussert sich in Wut und Protest, in seit Jahrzehnten (!) kontinuierlich steigender Politikerverdrossenheit und in Minusrekorden bei der Wahlbeteiligung. Nicht nur antidemokratischen Populisten sondern auch den im Herzen durch und durch demokratischen Piraten bietet diese Stimmung nun einen Nährboden.

Zum anderen, dass die Piraten ihren Stil noch nicht scharf definiert haben. Einige Eckpunkte sind mehr oder weniger klar umrissen: Transparenz rulez, Mitwirkung ermöglichen für jedermann, Basisdemokratie. Und trotzdem hat nur das Versprechen, etwas anders machen zu wollen, für 8,9% gereicht! Boah.

Und die LINKE stellt fest, dass sie beim Kopieren der Piraten an eine Grenze stösst. Wo dieser herkommt wird zunächst etwas verklausuliert begründet, bevor benannt wird, wo der Piratenstil seine Grenze findet - fast so, als wollten sich die Autoren dafür entschuldigen.

Die Piraten wähnen sich (das Verb passt hier perfekt, teilt es den Wortstamm doch mit „Wahn“) in der Lage, dass ihre Basisdemokratie grenzenlos sein kann. Das ist aber nicht der Fall. Dort, wo Grundprinzipien verletzt wären, findet sich die Grenze für jeden Bürgerentscheid.

Für mich persönlich spannend ist, dass gerade einer der prinzipienstärksten Piraten in Berlin gleichzeitig einer der glühendsten Verfechter von Liquid Democracy ist: er verfolgt politisch das Ziel, eine dem bekannten LiquidFeedback nicht unähnliche Technik zum herstellen von verbindlichen Entscheiden zu benutzen. Derzeit ist LiquidFeedback in der Piratenpartei ein Werkzeug, um Meinungsbilder abzufragen. Diese Meinungsbilder sind sehr viel detaillierter und präziser als die Bilder, die der typische etablierte Politiker von der Welt hat. Was sicher ein Fehler besagter Politiker ist, aber auch daran liegt, dass LiquidFeedback mit dem ein-Pirat-eine-Stimme-Prinzip präziser arbeitet als einfach nur zuhören.

Spannend wird es für mich, wenn genau dieser Pirat auf ein Votum im Liquid treffen wird, das seinen Prinzipien direkt entgegengesetzt ist, aber eine klare Mehrheit der Basis darstellt.

Dieser Fall ist derzeit in Berlin sehr unwahrscheinlich: der Landesverband ist sehr homogen, die Leute ticken alle irgendwie sehr ähnlich. Das liegt an der Entstehungsgeschichte: beim inflationären Wachstum des LV in 2009 blieben halt nur die Interessenten als Mitglieder hängen, die zu den vorhandenen Leuten passten.

Aber die Zusammensetzung verändert sich. Während Sie das hier lesen treten wieder neue Leute in die Piratenpartei ein. Der LV Berlin ist über 10% gewachsen nur in den 2 Wochen vor der Wahl. Und es liegen noch unbearbeitete Anträge in der Warteschlange. Schaut man sich diese Leute an, dann sind das nicht mehr die Aktivisten oder „das muss besser gehen“-Zornbürger aus 2009. Es sind auch nicht mehr die FDP-Flüchtlinge, die 2009 noch vor dem Grauen erregenden Neoliberalismus der aktuellen FDP weggerannt sind und auf der Suche nach einer freiheitlichen Partei bei den Piraten angespült wurden.

Die ersten Karrieristen kommen. Menschen, denen es in der Politik genau um eines geht: sie selbst. Also Menschen, deren Einstellung das genaue Gegenteil von altgriechisch politikos (etwa „auf das Gemeinwohl fokussiert“) ist. Die idiootoi kommen. Denn die Piraten bieten sich für eine schnelle Karriere offenbar an.

Aber beileibe nicht alle Neuzugänge sind dieser Art. Viele sind einfach genau die Sorte wie damals, vor langer Zeit, in ,09, als die Suche nach einem neuen Politikstil einfach bei den Piraten enden musste.

Und dieser neue Stil, der noch etwas vage ist und den ich persönlich immer in die Richtung „was richtig ist wird unterstützt, was falsch ist mit Gegenvorschlag gekontert“ drücken will, enthält viel Bürgerbeteiligung.

Und damit wohl auch eine Tendenz zum Populismus. Will ich in einem System wie LiquidFeedback viele Stimmen für meine initiative erhalten, dann muss die Initiative populär sein. Ausserdem ist nichts, was dort entschieden wird, in Stein gemeisselt. Es ist zwar alles nachvollziehbar, aber nichts hindert einen Piraten daran, ein neues Thema aufzumachen, das mit einem bereits abgeschlossenen identisch oder praktisch identisch ist. Das erzeugt m.E. eine Tendenz zu einem Kurs mit einer Schlingerfrequenz die in der Nähe der Abstimmungsfrequenz liegen dürfte.

Nichts davon ist tatsächlich bewiesen, aber ich sehe die Gefahr. Und weil sie zu sehen ist, kann man ihr entgegentreten.

Bleibt dennoch die spannende Frage, wie weit man die Basis der Partei und die Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen beteiligen will. Denn TRansparenz ist ja nur ein Versprechen der Piraten.

An der Stelle nochmal kurz eingehakt, mein Abflug ist eh 50 Minuten verspätet und den Anschluss in Heathrow verpasse ich jetzt vermutlich.

Wie geht Transparenz? Aktuell läuft eine Fraktionssitzung und es sind gerüchteweise 1000 Zuhörer (eintausend!) im Audiostream um zu verfolgen, wie sich die noch-nicht-ganz-Fraktion eine Satzung gibt. Das ist transparent bis zum Abwinken.

Nützt aber unter dem Strich gar nichts. Denn ein Bürger wie ich, der einer geregelten, schlecht bezahlten Arbeit nachgeht, kann gar nicht die Zeit haben, alle diese Streams zu verfolgen. Speziell wenn zwei Ausschusssitzungen gleichzeitig laufen kann nicht einmal mehr jeder Abgeordnete allem folgen.

Darf man das nochmals betonen? Keiner kann alles in Echtzeit verfolgen.

Ergo ist es für die wirkliche Transparenz viel wichtiger und nützlicher, wenn es Protokolle, Zusammenfassungen - ggf. mit Kreuzreferenzen - gibt. Genau dafür habe ich meine Abgeordneten abgeordnet: die hören sich für mich den ganzen Salm an und informieren mich dann zusammengefasst.

Das ist übrigens auch ein Punkt, den das verlinkte Papier der LINKEn anspricht: bestimmte Arbeitsweisen der Piraten sind nicht kopierbar auf eine Partei, die grösser ist als die Piraten. Das werden die Piraten in Kürze auch bemerken. (an dieser Stelle gruselt es den Autor vor dem Bundesparteitag im Dezember. Wie viele da wohl anreisen werden?)

Aber ich wollte an den anderen Punkt. Basisdemokratie.

Wie geht das? Einige Piraten verstehen darunter ein universelles veto für jeden: solange ich nicht mitgeredet habe darf es keine Entscheidung geben. Das ist kein veto gegen den Ausgang der Entscheidung - das wäre ja sooo undemokratisch - aber es ist ein veto gegen das Arbeiten an einer Entscheidung. Es ergibt sich also ein Arbeitsprozess mit dem Tempo, mit dem der Langsamste noch an allen Informations- und Entscheidungsprozessen teilnehmen kann. Damit wäre eine Partei dann so weit abgebremst, dass ein Gletscher sie locker überholt.

Geht also nicht - haben die Piraten schon bemerkt. Und auch deshalb bietet LiquidFeedback ja die Möglichkeit, dass sich jeder Teilnehmer seinen Arbeitspunkt zwischen rein repräsentativer Demokratie (globale Delegation) und voller Basisdemokratie (ich verfolge alle Themen selbst) persönlich aussucht und einstellt.

Und jetzt Bürgerbeteiligung. Die anderen Parteien schrecken davor zurück. Wie der Teufel vor dem Weihwasser. Und es ist klar, warum: sie trauen den Bürgern nicht zu, verantwortungsvoll zu handeln.

Das dürfte auch sein, was die Autoren des o.a. Papiers meinen, wenn sie die Parteien als Hüter bestimmter Werte betrachten, die sie verteidigen müssen. Gegen Bürger? (ich kann die Piraten schon „geht ja gaaa nich‘„ rufen hören, but hang on!) Auch die im Papier anklingende Angst vor „Bürgerbeteiligung mit völlig offenem Ausgang“ klingt irgendwie nach „wir müssen alles vorher manipulieren“. Auch das trifft einen Piratennerv genau auf die 12.

Aber in der Tat wissen alle Piraten, dass genau diese Ängste völlig berechtigt sind. Die Angst, dass Meinungsbilder im Liquid manipuliert oder von kleinen Cliquen dominiert werden, ist völlig real und bekannt. Vogonismus breitet sich aus, also die geschickte Nutzung von hidden-in-plain-sight Informationen in WikipadjabbertwitterfacebooksyncomML. Die Trollerei auf den Mailinglisten ist legendär.

Und wieder das Problem mit der Zeit. Wer hat die Zeit, allem zu folgen, wer kann sich zu mehreren Themen eine qualifizierte Meinung bilden? Relativ viel freie Zeit haben Studenten, Arbeitslose und Schüler, weniger Lehrer, Beamte und Angestellte.

Ja, richtig, LiquidFeedback trägt dem Rechnung: der Experte in seinem Feld, der seine Zeit dort investiert, sammelt die vielen Delegationen. Aber wie bürgerbeteiligt ist das dann noch? Und wie verhindert man den puren, blanken, verantwortungslosen Populismus?

Also doch Werte und Prinzipien verteidigen auch gegen Bürgerbeteiligung - und damit gegen eines der eigenen Prinzipien.

Die Piraten laufen mit dem Abgeordnetenhaus und mit den Wahlvorbereitungen zum neuen Bundestag auf einen fürchterlichen inneren Spagat zu.

Zeit für ein wenig Stretching....


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Politik