A Tale of Two Cities

Man liest ja zu wenig

An dieser Stelle mal Dank an das Usenet. Das war das, was wir „damals“ hatten, bevor das Internet Protocol all den wilden Wuchs von Protokollen für den Datenfernübertragung hinwegfegte (ähnlich wie später Google Altavista wegfegte).

Dank nicht nur, weil ich im Usenet (das die Quelle des „on the net, nobody knows you‘re a dog“ ist, wenn man mich fragt) als grad-mal-Volljähriger erleben durfte, wie es sich anfühlt, mit alten Hasen, Professoren, anderen Studies, voll auf Augenhöhe zu kommunizieren. Wir waren alle gleich - bzw. jeder war eben nur der Text, den er schrieb. Ohne Kontext, der Vorurteile hätte bewirken können.

Usernet war zu meiner aktiven Zeit im Volumen etwa so viel, wie man in 3 Stunden über eine 2400er Modem saugen konnte. Da passte nur Text, keine Bilder oder gar Ton oder Video.

Und alles war Englisch. Und ich konnte kein Englisch - also nur die Bröckchen, die 4 Jahre Englischunterricht in der Schule hinterlassen hatten.

Aber diese Brocken reichten damals für echte Kommunikation im Usenet: der „Tonfall“ war ein sehr mündlicher, perfekte sprachliche Präzision war nicht gefordert. Dennoch war es Text-auf-Bildschirm; so konnte ich das Lesetempo dem Versteh-Tempo anpassen, Vokabular nachschlagen (auf Papier, nicht leo.org :-) und tatsächlich auf Englisch kommunizieren.

Was man nicht übt, das kann man nicht. Und umgekehrt.

Also kürzer: Dank des Usenet habe ich mich vom Englischen nicht abgewendet, wie ich es sonst womöglich getan hätte (wie so viele meiner Generation noch). Danke.

So kann ich jetzt Dickens lesen. Ok, dafür reichte der Usenet-erlernte Wortschatz nicht, da mussten noch Pratchett, Adams, Pournelle/Niven, um nur einige zu nennen, mithelfen.

Und jetzt also Dickens. Nach „a tale of two cities“ habe ich mich jetzt gefragt, warum habe ich das nicht längst gelesen.

Das Buch hat Schwächen. Die heldenhafte Selbstaufopferung von Sydney Carton: hachja. Sehr romantisch, schrecklich schön tragisch. Aber so verhersehbar.

Ansonsten ist es hinreissend. Wie Dickens die Sprache variiert, passend zu den Charakteren, die auf diese Weise so plastisch werden, wie er zwischen recht nüchterner Prosa und geradezu poetisch verzwirbelter Sprache wechselt - einfach schön.

Und dann das Thema. Liberté, Egalité, Fraternité. Das könnte ein schönes Motto für die Piraten sein; Freiheit, Gleichwert, Geschwisterlichkeit, das passt doch.

Wenn da nicht das Problem mit dem historischen Vorbild wäre, das Dickens so schön darstellt. Gewalt.

Eine Orgie der Gewalt, die einmal in Gang gesetzt, nicht einmal vor offensichtlich Unschuldigen Halt macht: nur noch der Rekord zählt, jeden Tag müssen mehr Köpfe rollen. Auslöschung.

Mich hat dieser Roman - er ist ja nicht rein fiktiv, la grande terreur ist fürchterliche Realität gewesen - bestätigt in Überzeugung: aus Gewalt ist noch nie etwas Gutes entstanden.

Man mag sagen, dass die Revolution in Frankreich doch etwas Gutes hervorgebracht hat. Immerhin ist unser Nachbar jetzt ein demokratischer Staat. Aber ich bin überzeugt, dass Gutes niemals aus der Gewalt entsteht; sondern ihr zum Trotz.

Gewalt bringt immer nur Opfer und mehr Gewalt hervor. Rache ist ein fürchterlicher Ratgeber und es ist der grösste zivilisatorische Durchbruch gewesen, die Rache zu de-privatisieren.

Wie eine eskalierende Rachespirale wirkt, hat meine Generation in Belfast (und Irland überhaupt) beobachten müssen. Grauenhaft.

Aber zurück zur Literaturkritik. Auf Dickens gebracht hat mich mein Lieblingsautor, Sir Terry. Seine Hommage an den Meister wischte den Staub von dem alten Vorsatz, endlich mal ein paar Klassiker nachzuholen.

Aber Sir Terry hat in meinen Augen noch höhere Meisterschaft erreicht. Ich empfehle hier nicht die unmittelbare Lektüre von Snuff, denn idealerweise hat man vorher die anderen Romane mit Sam Vimes gelesen. Aber Snuff steht auch für sich allein.

Snuff ist eine böse, fiese, plastische Dystopie. Der Roman zeigt, wohin einige Akteure unsere Gesellschaft treiben wollen. Unsere! Pratchett beschreibt die Gesellschaft, die es als „selbstverständlich“ etabliert hat, dass ein Teil ihrer nur „Ausschuss“, „no more than vermin“ ist. Weit besser als Collins in den Hunger Games hat Sir Terry mir mit seinem Roman Angst gemacht vor der Zukunft.

Also jeder Zukunft, die uns blüht, wenn wir nichts dagegen tun. Wenn wir uns nicht der Ausgrenzung, dem „no more than vermin“, entgegenstellen.

Es freut mich, auf der AVB13 verhalten, aber merkbar, zu spüren: die Piraten wollen das.

Wenn wir jetzt noch einen Stil finden, der an Sir Terry ein wenig heranreicht. Pratchett ist wohl der einzige, der dir eine böse, angsteinflössende Dystopie so unterbreiten kann, dass dir in der Berliner S-Bahn wortlos ein Taschentuch gereicht wird, um die Lachtränen vom ebook-Reader zu wischen. Was für ein Genie. Snuff ist uneingeschränkt zu empfehlen, auch für Leute, die „!Fantasy“ nicht mögen.


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