Was ist eigentlich "neutral"?

Ok, Fotografen wissen: Neutralgrau ist ein Filter, wenn es alle sichtbaren Wellenlängen genau gleich absorbiert. Und genau so neutralgrau ist alle Theorie: was sind denn die sichtbaren Wellenlängen? Ich habe z.B. einen Freund, der nachts mit Sonnenbrille ein Kraftfahrzeug locker und sicher und zügig bewegt: er kann eben Wellenlängen sehen, die mir verschlossen sind (und man kann ihn mit einer Fernbedienung blenden): für mich ist das alles infrarot, was er noch zum Bild macht.

Das Sommerloch nähert sich und da passt dann Netzneutralität wieder gut rein. Chemiker wissen, dass pH 7,0 neutral ist. Das kann man nicht diskutieren, das ist eben einfach so festgelegt. Alle pH-Werte kleiner 7 sind sauer, alle grösser 7 alkalisch und 7,0 eben neutral. Aber wie ist das mit der Netzneutralität: ist das ein festgelegter begriff, eher relativ oder eben (wie das Neutralgrau) von den Umständen abhängig? Jedenfalls hat sich eines der Internet-Dienstleistungsunternehmen der 3. Generation aus Montabaur jetzt mal wieder für „Netzneutralität“ ausgesprochen, lesen wir hier. Aha. Und was meinen die damit?

Also erstmal meinen sie, dass sie die Investitionen, die es erforderte, verschiedene Traffic-Klassen zu unterscheiden, nicht machen wollen. Kostet ja Geld. Und der Business-Case ist erst dann genehmigungsfähig, wenn man auch zeigen kann, dass der Invest sich rechnet, man also irgendwem was berechnen kann, Mehreinnahmen erzielt und so weiter. Und wer wird für die Bevorzugung von rtp-Paketen bezahlen wollen?

Was soll ich sagen? Ich zum Beispiel. Doch in der Tat: ich würde für ein Traffic Shaping, das mir garantiert, dass die Pakete meiner SIP-Connections eine definierte Maximallatenz haben oder dass die TCP-Verbindung zum Mumble-Server auf eine definierte Minimalbandbreite zurückgreifen kann, in der Tat ein paar Cent drauflegen, vor allem wenn ich dafür den http-Schnulli oder den Bittorrent-Download des neuesten WoW-Updates billiger bekomme.

Schon heute zahle ich gelegentlich was extra, wenn ich ein Paket besonders schnell befördert wissen will. Allerdings sind das in braunes Packpapier und nicht in IP-Header und MPLS-Labels gekleidete Pakete. Und „overnight“ kostet eben extra, Mann!

Einige Netzbetreiber der ISP-Nachfolgegenerationen haben eigene Netze aufgebaut und diese sind in den letzten Jahren mit neuer Technik ausgerüstet worden, die für IP-Netze den grössten Teil der Vorteile von ATM-Netzen nachrüstet. Zugegeben, man hätte damals in den 80er/90ern einfach gleich öffentliche Netze mit ATM bauen können, Technik wie die Stratacom BPX/MGX oder Lucents B-STDX 9000 existierten ja. Selbst Cisco hat eine Zeit lang diese Technik vermarktet (der Lightstream 1010 war einer der genialsten ATM-Switches, die es je gab), dann aber vor allem durch Zukäufe von ATM-Herstellern und systematisches Einstellen von Produktlinien die Technik kleingemacht.

Wenn man heute überlegt, warum sich IP gegenüber der Konkurrenz aus X.25-FrameDelay-ATM so durchgesetzt hat, dann fallen 2 Gründe auf. Einer gut, einer Blödsinn. Der gute Grund: IP ist neutral hinsichtlich seines Trägermediums. Das funktioniert vom Avian Carrier (RFC1149, seit 2001 in einer Implementation für Linux verfügbar) bis zur Glasfaser auf allem, was irgendwie Bits übertragen und Paketgrenzen bilden kann. Gerüchteweise auch auf nassen Schnürsenkeln. IP geht auf allen Medien, das heisst, es stellt an das Layer-2-Protokoll keine Anforderungen. Man kann also Modem-Dialup machen, FDDI, Ethernet, SCSI, SDH-Links selbst Satellitenlinks einsetzen, IP geht.

Der Preis dafür: IP kann eben auch keine Transporteigenschaften wie - Latenz - Bandbreite - Fehlerrate garantieren: das würde zusätzliche Informationen aus dem Layer-2 bedingen und andere (mehr/höhere) Anforderungen an den unter IP liegenden Layer-2 stellen. Das wollte man bewusst nicht tun.

Eine Folge daraus ist, dass IP zu implementieren relativ simpel ist. IP-Stacks für 8-Bit-Microcontroller mit 1k RAM existieren, auf DOS-Pissis ging es auch schon. Folge: das ist billig. „Und billich ey, da stehste doch drauf!“ (alter Werbespruch von T-Mobile für die X-Tra Card). Genau: alle wollten „wir können nur billig“ und so.

Heute merken wir, dass das Nachrüsten der ATM-Features wie Bandbreitengarantie, Latenzgarantie, Ende-zu-Ende Herstellung auch redundanter Transportpfade etc. bei IP richtig teuer kommt. Die als NGN verkauften Netzwerk-Infrastrukturen sind ja nicht billiger, als es olles ATM heute bei gleichen Stückzahlen wäre. Nur komplexer und schwerer zu beherrschen.

Aber in den letzten 10 Jahren, in denen ich nicht mehr selber Transportnetze baue (mit MPLS haben wir damals grad angefangen) hat sich diese NGN-Technik doch sehr gemausert: aus dem Spielzeug, das im Vergleich zur zeitgenössischen etablierten Technik praktisch unbrauchbar war, hat sich etwas recht brauchbares entwickelt. Bessre Beispiele wohl das und das.

Diejenigen Netzbetreiber, die in den letzten Jahren die MPLS-basierten NGN aufgebaut haben, um allen Datenverkehr - Sprache, (virtuelle) private Netze, Mietleitungsähnliche Festverbindungen und diesen neumodischen http-smtp-pop3-imap4-Schmuddel - über eine einzige Infrastruktur transportieren zu können, wollen jetzt Geld sehen. Die Versprechen der „Netzwerkausrüster“ - also Hersteller von Switches und Routern - sind nämlich idR. nicht eingelöst worden, weil sie nicht einlösbar waren. Die Einsparungs-Versprechungen basierten auf Kostenkalkulationen für typische IP-Netze (also best-effort, wird-schon-klappen, den-Backbone-Ausfall-können-wir-nächste-Woche-noch-fixen, entstört-wird-nur-werktags-von-12-bis-Mittag) gehen mit Hyper-IP-MPLS-Gigabit-Technik nicht mehr auf.

Für mich steht in der Meldung von heise über die Position von 1&1 vor allem eines drin: die wollen billig, nicht nachdenken müssen und haben erkannt, dass man das als populäre Position „wir sind für Netzneutralität“ verkaufen kann.

Aber machen wir uns nichts vor: eine Bevorzugung von Telefonie ist in den komplett NGN-basierten Netzen in Deutschland längst Realität, viele neu installierte „ISDN“-Anschlüsse benutzen auf der last mile ausschliesslich das DSL-Spektrum (auch wenn da ein S0-Bus aus dem Kästchen kommt: die beiden B-Kanäle werden als ATM-over-DSL-VCs bis zum nächsten Router gefüht, ab da als UDP. Und den gelegentlichen Jitter merkt man eben doch!) und jetzt drücken die Controller auf das Management: das neue Netz war teuer und muss sich jetzt rechnen.

Das 2-Klassen-Netz kommt nicht, es kommt das 5-Verhkehrsklassen-Netz. Die Politik kann nur eines tun: eine Grundversorgung sicherstellen. Ob das Internet-Enquetes können, bezweifle ich doch sehr, da die Leute darin keine Vision haben, was morgen Grundversorgung sein wird. (Am Rande: ich bin noch in den 90ern, ,96? ,97?, auf der CeBIT an unseren Stand gefragt worden, was wir da eigentlich anbieten. Damals sagte ich: „heute fragt man sie ,haben sie eMail?‘, nächste CeBIT nur noch nach ihrer eMail-Adresse. Und eMail machen wir!“)

Aber eine Unterscheidung von Verkehrsklassen wird m.E. nicht mehr zu verhindern sein - ja, sie sollte nicht verhindert werden. Es muss dem Kunden nur klar sein, wo wann wie priorisiert wird und es muss eine Grundversorgung sowie Wettbewerb sichergestellt sein.

Axel E. Fischer, übernehmen sie? Grusel.


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Politik