Politik in Zeiten des Internet

Im gestern veröffentlichen Video von MaiLab geht es um das Thema MMS.
Was für "miacle mineral solution" steht und eine Wunderdroge beschreibt, die angeblich so ziemlich alles heilen kann.
MaiLab geht als Wissenschaftskanal eher zaghaft an das Thema heran, auch wenn man der Betreiberin doch anmerkt, wie sehr das Thema sie aufregt.
MaiLab will informieren und nicht kommentieren - was ich ausdrücklich lobe.

Mai Thi Nguyen-Kim, vermeidet es daher auch ausdrücklich, diejenigen als dumm zu bezeichnen, die auf den Betrug hereinfallen, sie nennt die getäuschten Opfer der Betrüger.

Ich kann dieser Sichtweise einiges abgewinnen, und grad deshalb mag ich MaiLab als einen Kanal der Aufklärung so sehr.
In der Tat sind die armen Schweine, die sich offenbar tagtäglich mit Chlorbleiche vergiften, Opfer einer skrupellosen Kampagne.
Und vielleicht auch Opfer eines Problems mit den Bildungssystemen in den USA (wo der Hype um MMS wohl besonders ist) als auch hierzulande?

Jedenfalls reichen meine rudimentären Chemie-Kenntnisse (ich habe das Fach Chemie nach der 11. Klasse abgewählt) aus um Chlordioxid als pures Gift zu erkennen.
Als oxidatives Agens setze ich im Werkstatt-Alltag eher Wasserstoffperoxid oder Ozon ein, weil Chlorbleiche etwas in Verruf geraten ist - sogar Papier wird inzwischen mit "100% chlorfrei gebleicht" beworben.
Die in den USA einfach als "Bleach" bekannten Lösungen aus Natriumchlorit sind in quasi jedem Haushalt vorhanden, sie sind ein Standard-Reinigungs- und Desinfektionsmittel.
In den 80er Jahren hat ein Hersteller dann einmal versucht, diese Mittel auch in Europa, mindestens in Deutschland, zu vermarkten.
Allerdings waren hierzulande (salz-)säurehaltige WC-Reiniger sehr üblich und verbreitet. Mit diesen vermischt bildet Natriumchlorit dann elementares Chlor.
Also Chlorgas.
Also ein bekannt fieses Giftgas.

Daneben ist auch eine andere haushaltsübliche Chemikalie in Verbindung mit Bleach ausgesprochen gefährlich; allerdings war der von meinen Grossmüttern noch als Fensterputzmittel sehr geschätzte Salmiakgeist in den 80ern nicht mehr in jedem Haushalt anzutreffen: der stechende Geruch der Ammoniak-Lösung (nichts anderes ist Salmiakgeist) sorgte dafür, dass sich Glasreiniger auf Basis von Alkoholen und Tensiden verbreiteten.
Dennoch gab es das Zeug noch in jeder Drogerie, daher würde ich es als handelsübliche Haushaltschemikalie einstufen.
Ammoniak-Lösung plus Bleach jedenfalls reagiert zu dem giftigen Monochloramin, was auch nicht wirklich weniger fies ist als pures Chlor.

Jedenfalls sollte man doch einem erfolgreichen Schulabsolventen mit Zugang zum Internet (und damit der Wikipedia, die ich auch grad genutzt habe, um die vorangegangenen Absätze zu formulieren) zutrauen können, dass er oder sie ein oxidatives Bleichmittel, das als "hautreizend" beschrieben wird und das im Haushalt keine vernünftige Person ohne Schutzaustrüstung (Gummihandschuhe) verwenden würde, als "irgendwie schlecht beim Verschlucken" zu erkennen?

Offenbar nicht.
Was verschiedene Ursachen haben dürfte - von "Chemie hab ich abgewählt" bis zu dem Effekt, dass Geeks, Nerds, Streber und verwandte Worte eigentlich nie positiv konnotiert sind; die coolen Kids jedenfalls haben von sowas keine Ahnung.

Wir sehen diese Kenntnisfreiheit und -feindlichkeit an allen Ecken und Enden.
Die Impfverweigerer machen aus dem von Rechts wegen ausgerotteten Masernvirus wieder eine Epidemiegefahr, die "ich nehme die Antibiotika vorbeugend, damit ich gar nicht erst krank werde!"-Typen gehen mir genauso gehörig auf den Keks.

Moderne Zeiten

Das Problem ist, dass das Problem so vielschichtig und komplex ist.
Und die Karre schon so lange so festgefahren ist.
Und dass schon der Versuch eines Überblicks fast aussichtslos ist.

Da kommen halt verschiedene Dinge zusammen.
Die Wissenschaft selbst wird des Problems der "Raubjournale" nicht Herr.
Auf dem 35C3 haben drei Journalisten über ihre Recherchen zum Thema fake science berichtet; für mich ein Gruselfilm

Und wie soll man da einem Normalbürger zutrauen, sich noch auszukennen?
Ja klar, Kenntnisse würden helfen - aber schon Kenntnisse auf Abiturniveau dürfen wir naturgemäss nicht von jederfrau erwarten, auch wenn die Abiturientenquote stetig steigt.

Zu der Glaubwürdigkeitslücke, die sich immer weiter öffnet, gesellt sich also die Überforderung als Problem.
Nun ist es nicht so, dass Menschen früher weniger Überforderung erlebt hätten.
Das Gefühl von Ausgeliefert-Seins ist integraler Bestandteil des Mensch-Seins, denn mindestens als Kinder haben wir es alle erlebt. Und zwar so lange und so massiv, dass es akzeptierter Normalzustand wurde (eine Wirkungsweise des menschlichen gedächtnis ist ja, stetig gleiche Zustände nicht mehr wahrzunehmen und auch nicht zu erinnern; Eric Kandel hat das sein Leben lang erforscht).

Auf Überforderung reagieren wir Menschen immer mit Angst.
Was echt schlau ist!
Der Eckhard von Hirschhausen hat das mal schön auf den Punkt gebracht: (sinngemäss) von dem Menschen, der morgends gleich aus der Höhle gerannt ist und vom Raubtier gefressen wurde, stammen wir nicht ab: unser Vorfahr hat (ängstlich) abgewartet, bis das Raubtier satt war.
Angst ist Teil unserer Klugheit, weil sie uns daran hindert, Dummes zu tun.

Ein Problem dabei ist nur, dass wir nicht in der Lage sind, diese Ängste zu mitigieren mit einem Gespür für Risiko: wowas haben wir nicht.
Wir haben keinen "Sinn" (im sinne von intuitiver Erkenntnis) für Wahrscheinlichkeit.

Hätten wir sowas, keiner von uns Motorradfahrern würde sich noch auf seinen Bock setzen: die Wahrscheinlichkeit, im Verkehr zu sterben, ist gegenüber dem Fahrrad und dem Auto so massiv grösser, dass dir echt nut die seelige Ignoranz den Spass erhalten kann.

Die Überforderung in der heutigen Gesellschaft ist aber weniger der Verkehr, der mit seinen grad mal 3.265 Verkehrstoten in 2018 einen Blutzoll erfordert hat, den wir wohl für akzeptabel halten.
Gegenüber >13.000 Toten in 1980 ist das ja durchaus weniger geworden.

Nein, es ist der Überfluss an Information - bzw. an Angeboten, die Aufmerksamkeit wollen.
Denn Aufmerksamkeit, das ist die Währung der Werbewirtschaft - und damit letztlich die Währung des Internets.
Auch das ist wieder nicht so ganz neu: schon Zeitungen und presseähnliche Druckerzeugnisse wurden traditionell unter den Kosten abgegeben, die allein der Druck und die Verteilerlogistik verursachten. Geld verdiente man mit den Anzeigen.
Also letztlich mit der Aufmerksamkeit, die die transportierte Nachricht erzeugte und die über Werbung in klingende Münze umgesetzt wurde.

Mit Rundfunk und später dem Fernsehen gesellten sich im Laufe der Zeit weitere (werbefinanzierte oder -teilfinanzierte) Kanäle hinzu, die um Aufmerksamkeit ersuchten.
Und an den rein über Werbung finanzierten Privatsendern konnte man dann gut ablesen, wie die Programmgestaltung von "Zielgruppenanalysen" diktiert wurde.

Mit dem heutigen Trend bei Youtube-Influencern geht diese Geschichte ihren konsequenten Gang weiter.
Dass jetzt erste Urteile wegen Schleichwerbung ergehen, ändert vermutlich nichts an der Tatsache, dass auch hier die erzeugte Aufmerksamkeit gezielt in Werbe-Geld umgesetzt wird.
In der Auseinandersetzung zwischen dem Bundeskartellamt und Facebook hat Zuckerberg sogar zugegeben, dass Facebooks Geschäftsmodell um die Aufmerksamkeit der Nutzer gestrickt ist: diese zu erlangen und über Werbung in Geld umzusetzen ist der Kern.
Und da steht Facebook tatsächlich in Konkurrenz mit anderen Angeboten, die um die gleiche Münze buhlen.

Das beeinflusst Politik

In so einem Umfeld ist es für die Politik quasi zwangsläufig, sich von Wissenschaft als Grundlage zu lösen.
Wahlentscheidungen - und die Wählerstimme ist die Währung der Politik selbst in Gesellschaften, die wir als "nicht mehr" oder "vielleicht gerade noch" demokratisch ansehen - also die Entscheidung, welchen Kreis auf dem Stimmzettel man ankreuzt, werden emotional getroffen.
Daher ist es im Grunde konsequent, wenn sich Politiker wie Orin Hatch von Fakten komplett verabschieden (und auch auf dieser Seite des grossen Teichs finden sich sicher Beispiele).

Es ist also verständlich und nachvollziehbar, warum die Fehlentwicklungen, unter denen wir heute leiden, so verlaufen, wie sie das nun einmal tun.
Die Herausforderung der sogenannten Digitalisierung ist es daher auch nicht, jede Milchkanne und jeden Turnschuh noch mit einer IP-Adresse zu versehen und mit einem Gigabit je Sekunden an irgendein Netz anzubinden.

Die Herausforderung für die Gesellschaft ist es, den Zielkonflikt zu lösen aus * Freiheit * Informationsfluss -und menge * Fürsorge.

Die Raubjournale, die kompletten Unsinn drucken und so zur wissenschaftlichen Verwirrung (und Glaubwürdigkeitslücke) beitragen, sind genauso erlaubt wie die unzähligen Kanäle, über die so extrem gefährliches Dummes Zeug wie MMS beworben wird.
Denn das gehört zu den elementaren Freiheiten, die sich unsere Vorfahren erkämpfen mussten.

In den USA wird diese Freiheit traditionell weiter gefasst als in Europa, was gelegentlich zu Konflikten, häufiger zu Unverständnis führt: so sind die Insignien der völkermordenden Diktatur, die schon wieder die ganze Welt in einen verheerenden Krieg stürzen wollte (und das auch tat), hierzulande und beim Nachbarn Frankreich komplett verboten.
Finde ich gut so.
Kann ich nur amerikanischen Gästen nie als "gut" vermitteln - die vertehen das Verbot ganz und gar nicht.

Die Verbote gehören zur staatlichen Fürsorge, für die wir in Europa eine Verpflichtung konstatieren.
Das ist also der gleiche Themenkreis wie Zulassungsverfahren für Medizinprodukte, VDE-Vorschriften, TÜV-Prüfungen oder Obergrenzen für die Lautstärke bei Veranstaltungen oder dne Gehalt der Luft an Stickoxiden.
Ich warte ja fast jeden Tag darauf, dass jemand die Stickoxide als Wunderheilmittel gegen Krebs medial aufbaut - die Diskussion um Ober- würde zur Untergrenzen-Diskussion.

Heute hat also das EU-Parlament mehrheitlich für eine Neuregelung des Urheberrechtes und eine Ausweitung des in Deutschland gescheiterten Leistungsschutzrechtes auf ganz Europa gestimmt.

Und bevor jetzt wieder zu viele losbrüllen, die hätten doch alle keine Ahnung von dem, worüber sie da entscheiden:
Ja, das stimmt wohl.
Und das macht Angst, die sich zu der menschlichen Grundangst vor Veränderung gesellt.
Hinzu kommen Fakten, die nicht von der Hand zu weisen sind: die letzten 30 Jahre Technikgeschichte hat auch Verlierer der Entwicklung hervorgebracht.

Wenn also nun Abgeordnete ihre Fürsorgepflicht für diese Verlierer der sogenannten Digitalisierung entdecken, dann kann ich das verstehen und verzeihen.

Wie die Chlorbleiche-Trinker sind die eben nicht dumm sondern einfach nur verängstigt und überfordert.
Und das kann man ändern - allerdings nicht durch Rumkrakehlen sondern so wie MaiLab: Information, Sachlickeit und Hartnäckigkeit.

Gut dass Frau Nguyen-Kim immer wieder ihren Ehering aufblitzen lässt - ich verliebte mich sonst noch bis über beide Ohren...


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