Screenshot of typical 90ies Screensaver

Digitale Anachronismen

Gelegentlich trifft man auf Traditionen. An sich ist Tradition was gutes: sie vermittelt gesellschaftlichen Zusammenhalt, den das soziale Wesen Mensch nun einmal braucht.

Und dann trifft man auf Traditionen, die fortbestehen lange, nach dem ihre Zeit abgelaufen ist. Die Verhüllung der Frau in der Öffentlichkeit der islamischen Gesellschaft ist nach meinen Kenntnissen so eine Tradition: zu ihrer Zeit war sie sinnvoll und richtig, dann überflüssig und dann falsch bis widerwärtig. Damit habe ich mich hier schon befasst, daher keine Wiederholung im Detail.

Natürlich sind wir als total aufgeklärte Gesellschaft über solche Fehler heute völlig erhaben. Was denn sonst?

Oder vielleicht doch nicht ganz. In dieser Woche stiess ich zwei Mal auf dieselbe Tradition, die ihre Zeit hatte und nun Dummes Zeug ist. Den Screensaver.

Die mir bekannten Linux-Distributionen aktivieren out-of-the-datalink auf der Konsole einen Screensaver, der den Bildschirm dunkel tastet. Grad neulich nach der Installation meines neuen eigenbau-NAS für daheim musste ich das wieder mal manuell entfernen.

Das mag grad noch einen Zweck haben - LCD-Monitore gehen bei Wegfall der Synchronisationssignale ja in einen Energiesparmodus - wenn wir Computermonitore betrachten. Bei dem LCD-Fernseher, den mein Arbeitgeber grad für die Messepräsentationen beschafft hat, ist jedoch auch ein Screensaver aktiv, wenn man eine Diashow von der Platte abspielen lässt. Das ist vermutlich dieselbe Linux-Standardeinstellung (auf dem Computer in dem „Fernseher“ dürfte ein Linux laufen, oder vielleicht ein Windows CE?).

Dieser Screensaver zeigt dann ein über den Bildschirm hüpfendes Bildchen und etwas Text (den Namen des JPEG-Bildes, den er anzeigen könnte) an. Bei vollem Stromverbrauch.

Ich vermute, dass heute einfach niemand mehr weis, warum ein Screensaver einen Bildschirm bewahrt (to save -> bewahren) und wovor er schützt. Als wir damals noch Monitore mit Braunschen Röhren oder deren Abkömmlingen einsetzten, da war das „Einbrennen“ ein gefürchtetes Phänomen. Stelle man über lange Zeit ein stehendes Bild dar (oder Bilder mit immer gleichen Bildteilen), dann brannte dieses Bild in die Röhre ein: der Phosphor verschliss an den ständig leuchtenden Stellen halt schneller. Auf vielen Terminal-Bildschirmen die an DEC-Minis oder IBM-Mainframes hingen, war auch in ausgeschaltetem Zustand das Menü der genutzten Anwendung gut zu erkennen.

Auf Desktop-PCs bot sich daher an, bei Nichtbenutzung den Bildschirm schwarz werden zu lassen: kein Bild, kein Verschleiss der Bildröhre. Oder man stellte auf dem weitgehend schwarzen Bildschirm bewegte Inhalte dar - wie der im Bild oben zitierte After Dark genannte Screensaver für den Mac.

Aber LCDs brennen nicht ein. Sie verschleissen zwar, aber eben nicht selektiv.

Doch wer weiss heutzutage schon noch, woher die Tradition des Screensavers stammt, wozu sie in einer fernen Vergangenheit mal gut war und warum es daher heute Unfug ist, daran festzuhalten?

Traditionen vermitteln gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und sie zu hinterfragen - stetig aber nicht überdosiert - vermittelt etwas eben so wichtiges: Fortschritt.

Daher vielen lieben Dank an die Hersteller des erwähnten LCD-TV für dieses wundervoll unpolitische und plastische Beispiel für eine zu hinterfragende und abzuschaffende Tradition. Denn diese Forderung „weg mit den Screensavern“ hat ein schön kleines Shitstorm-Potential, verglichen mit „Weg mit der Burka“...


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Politik