Winter in Brüssel

irgendwie trostlos

Winter finde ich irgendwie doof.
Heute ist zwar ein eher freundlicher Wintertag, man sieht gelegentlich auch den Daystar, aber meine Stimmung gibt eher Douglas Adams wieder (in Life, the Universe and Everything, Chapter 7), wenn er den Sonnenaufgang beschreibt:
Several billion trillion tons of superhot exploding hydrogen nuclei rose slowly above the horizon and managed to look small, cold and slightly damp.
Alles irgendwie grau und doof.

Da hilft es dann auch nicht, wenn mich über diverse, wenn nicht alle, Mailinglisten der Piraten ein Spam erreicht, in dem sich wieder mal irgendwer auskotzt darüber, wie unglaublich grässlich die programmatische Weiterentwicklung der Partei doch ist.
Auch das Genörgel, dass die Piratenpartei sich spalten solle und das Geblubber, dass LiquidFeedback Faschismus sei und nur von Transparenz-Nazis unterstützt werde, ist nicht gerade hilfreich.

Nun könnte man so ein Gejammer einfach als Folklore abtun, stünden wir nicht gerade mitten in den Wahlkampf-Vorbereitungen.
Da haben sich einige Leute fein in der Anonymität eingerichtet und feuern aus dieser Deckung heraus immer wieder solche eMails ab. Etwas nervig.
Ich bleibe dabei ja immer „Transparenz-Nazi“: einen oder eine, der/die nicht zu seinen/ihren Worten stehen kann, kann ich nicht ernst nehmen.

Aber es fällt auch schwer, dieses Genöle einfach abzuschütteln, irgendwas bleibt immer an meiner Stimmung hängen und zieht sie runter.
Denn ich kann immer öfter genau nachvollziehen, was einige Kritiker von LiquidFeedback massiv fürchten: die gnadenlose Mühle der Konsequenz.
Wenn in der Tat alles aufgezeichnet wird (was bei LQFB Programm ist) und dann in der Tat eine Person auf ewig festgelegt wird auf das, was sie irgendwann einmal gesagt oder getan hat, dann wird es eklig.

Wir bemerken im LV Berlin schon jetzt, dass die Aktivitätsrate abnimmt.
Gnadenloses Herumreiten auf gemachten Fehlern bewirkt eine Menge.
Eine Menge Motivationsvernichtung nämlich.
Und nur wer gar nichts tut, macht keine Fehler, es trifft also immer die Falschen.

Während es zum Menschenbild der Piraten gehört, einen Menschen als lernfähig zu sehen, wird diese Fähigkeit den aktiven Mitstreitern idR. a priori abgesprochen. Wer da einmal etwas gesagt hat ist auf ewig genau darauf festgelegt.
Nicht gut.

Aber mich plagen im Moment ganz andere Zweifel an den Piraten.
Mit der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vor Augen muss ich mich und andere fragen: wollen wir ins Parlament?
Das klingt nach einer rhetorischen Frage. Klar wollen wir! Und wie! Aber logisch!
Nur, wenn man dann das Verhalten der Bewerber um Kandidatur genauer ansieht, dann ...
... ja was dann?
Also, ich für mich erlebe da eine Menge Widersprüche.
Ich muss den folgenden Sätzen vorausschicken, dass ich auch nicht weiss, ob ich hier nicht überreagiere oder einer Fehlwahrnehmung aufsitze.

Aber vor meinem Erfahrungshintergrund - also: der Summe jener Erfahrungen, die mich zu dem machen, was ich bin und die das Universum meiner Augen und Ohren definieren (schon wieder ein DNA-Anklang, der Mann hat mich echt mitgeprägt) - erlebe ich eine Menge Angst.
Da sind Menschen, die ich durchaus mag, die auch klare Ansagen machen „wir wollen ins Parlament“ oder gar „ich will im Parlament Politik machen“.
Und die dann durch ihr Verhalten - in meinen Augen - ausdrücken, wieviel Angst sie genau davor haben.

Je mehr sich einer schon mit der Parlamentsarbeit vertraut gemacht hat, desto grösser wird idR. die Furcht davor.
Furcht, sich im täglichen Klein-Klein zu verlieren und die grossen, die wirklich wichtigen Dinge aus dem Auge zu verlieren.
Oder Furcht vor der Realpolitik, vor dem Kompromiss oder davor, etwas vertreten zu müssen, das man selber für Blödsinn hält, das die Mehrheit aber nun einmal will.
Oder ist es womöglich Furcht davor, genau so vorgeführt zu werden, wie die Piraten die etablierten im Wahlkampf vorführen könnten?

Gut möglich, ja wahrscheinlich, dass ich mich hier irre und dass ich vor allem meine eigene Furcht sehe - in den anderen - und nur noch nicht in der Lage bin, mir selbst das einzugestehen.
Ein Freund von mir schlägt mir seit geraumer Zeit ein gemeinsames Besäufnis vor, um solcherlei Dinge zu klären und ich weiche dem aus: ich bin mein Lebtag noch nicht besoffen gewesen (doch, das stimmt und ist möglich) und obwohl ich das Abstinenzlertum an meinem vierzigsten Geburtstag aufgegeben habe und gelegentlich Ethanolhaltige Getränke sehr geniesse, bin ich noch nicht so weit, mich zu besaufen.

In der Tat dräut mich die Vorstellung, im Abgeordnetenhaus jeden Tag nur noch Politik zu machen.
Kein Gefrickel mehr mit Mikrocontrollern, kein Rumgepuzzel mit Schmalband-Superhets und vermutlich wäre nicht einmal mehr Zeit und Gelegenheit, an der Drehbank ein Stück Alu zu zerspanen um irgendwas sinnloses aber hübsches daraus zu formen.
Denn die Arbeit wäre massiv - und täglich der Kompromiss, täglich das Sortieren in Wald und Bäume und täglich dieser Drang, ein Bad zu finden, mit dem man ein Kind ausschütten kann.
Wie? Den Drang gäbe es nicht?
Wieso machen es die etablierten dann so oft?

Jedenfalls wäre das eine Menge Arbeit, viel Klein-Klein und dabei das grosse Ganze nicht aus den Augen verlieren.
Grusel.
Aber ich denke, ich könnte das.
Habe es im Beruf ja auch einigermassen hinbekommen.

Aber traut uns Piraten das jemand zu?
Und wären diese Jemands mehr als 5% derer, die zur Wahl gehen?

Ich fürchte inzwischen, dass der Kampf aussichtslos ist, dass wir mit den Berliner Piraten nicht in der Lage sein werden, ein geschlossenes Bild abzugeben, welches geeignet ist, dass uns die Wähler konstruktiv-kritische Parlamentsarbeit zutrauen.

Ich fürchte, wir werden vor allem destruktiv wahrgenommen.
Es ist definitiv notwendig, die Korruptionssysteme zu destruieren.
Zu diesen gehören gewiss auch Fraktionszwang, blinder Gehorsam aber auch Expertokratie.
Und auch die Konsequenzmühle gehört in diese Rubrik, denn sie baut Zwänge auf, die dem Gewissen des Abgeordneten entgegengesetzt wirken können.
Aber diese Destruktion ist nicht abendfüllend wenn es um Politik für Berlin geht.
Sie mag notwendige Voraussetzung sein dafür, dass etwas vorankommt, aber eben nicht hinreichend dafür, dass wirklich was positives passiert.
Das weiss auch ein Wähler, der entscheiden muss, wer seiner Meinung nach in Parlament soll.

Wenn ich heute zur Wahl müsste - würde ich Piraten wählen?
Vermutlich nein, das wirkt mir alles zu chaotisch, zu destruktiv, ja genau genommen zu pubertär.
Einem Haufen pubertierender Möchtegerns würde ich selbst als Protestwähler Berlin nicht anvertrauen wollen.

Aber einer echten Alternative zu etablierten Parteihierarchien wohl schon.
Es wird die Aufgabe des Wahlkampfes sein, diese wählbare Alternative darzustellen.
Ich bin dabei ein Freund der nicht-radikalen Darstellung.
Und ich fürchte, dass das nicht gelingt und dass die Aussenwirkung der Piraten die einer radikalen Kleinpartei sein wird, die

  • alles,
  • jetzt
  • sofort
  • für umme, für lau, gratis

fordert und davon keinen µm zurückweicht.
Ich befürchte eine Aussenwirkung als im Kern das GG ablehnende , die repräsentative Demokratie bekämpfende Partei.
Ja, gerade weil wir das GG als unser Grundatzprogramm bezeichnen: wir sind Politiker und daher nimmt man uns so wahr.
Die C-Parteien tragen in ihrem Namen das, was sie bis aufs Blut bekämpfen.
Was sollte dem Wähler nun klarmachen, dass wir das GG hochhalten? Vor allem, wenn dann Systeme wie LiquidFeedback, die nicht einmal innerhalb der Partei unumstritten sind, im Wahlkampf erläutert werden.
Der Schluss „die wollen die parlamentarische Demokratie abschaffen“ liegt dann so nah wie Berlin an Cölln.

Ich habe Angst.
Ich mag nicht als Mitglied einer radikalen Partei missverstanden werden.
Ich mag nicht als Mitglied einer Organisation von pubertierenden Möchtegerns missverstanden werden.

Ich möchte verstanden werden als ein Mitglied der Partei, die die Speerspitze der neuen Bürgerbewegung für das 21. Jahrhundert bildet.
Ich möchte gesehen werden als einer, der an der Renaissance der Demokratie mitwirkt - nicht am Ersatz der Demokratie durch eine Priesterherrschaft der Technokraten.

Und mich bespringt immer öfter das Gefühl, dass diese Wünsche mit einer Mitgliedschaft bei den Piraten nicht kompatibel sind.
Das wäre jammerschade?


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Politik