Piraten überall

Kaum zu fassen, wo man überall auf Menschen trifft, die Piraten im Geiste sind.
In Spiegel 45/2010 findet sich ein Artikel eines der grossen Denker unserer Zeit.
Man muss mit Peter Sloterdijk sicherlich nicht immer übereinstimmen, gelegentlich kommt er zu Schlussfolgerungen, die einfach kompletter Quatsch sind. Er sitzt eben auch dem Irrtum auf, dass die Leute, die von der Politik immer „Leistungsträger“ genannt werden, tatsächlich die produktivsten Kräfte in Deutschland sind.

Die meisten von uns kennen das Berufsleben in der Industrie. Wir alle wissen, dass es da arbeitsteilig zugeht und dass die Teilung der Arbeit organisiert werden muss.
Die Personen, die diese Organisation herstellen, haben also eine wichtige Bedeutung für die Leistung des Unternehmens im Ganzen: fällt ihre Arbeit aus, kommt nicht mehr viel zustande.
Das Interessante ist aber, dass für diese Leistung dann andere eine Menge Geld kassieren. Die meiste Koordinationsarbeit leisten - jeder, der es schon einmal erlebt hat, kann das bestätigen - hauptsächlich Frauen, die Bezeichnungen wie „Sekretärin“ oder „Assistentin“ in den Organigrammen tragen. Aber als Leistungsträger hat die in letzter Zeit niemand bezeichnet, auch Sloterdijk nicht.

Aber in dem besagten Artikel im Spiegel trifft er auf den Punkt. Bulls-Eye. Voll auf die zwölf.
Ob die Entwicklung Roms hin zur Riege der Caesaren zwangsläufig war oder ob sie hätte vermieden werden können, wer weiss das schon? Cicero ist für mich die schönste und tragischte Figur Roms. Er hat in de re publica so wundervoll konstruiert, dass die römische Verfassung gegen jeden Verfall gewappnet ist, da sie die monarchischen, aristokratischen und plebiszitären Elemente der klassischen griechischen Staatstheorie verbindet. Cicero meinte, dass damit der Verfall in die Ochlokratie, die Oligarchie oder eine (ein-Personen) Diktatur ausgeschlossen wäre.
Eine schöne Idee. Und das so schön tragische an der Figur Cicero ist, dass er nicht nur Catilina sondern auch Caesar noch erlebt hat.
In de oratore beschreibt der Meister, wie ein Mann (ja doch, aber damals hatten Frauen noch nichts zu melden) beschaffen sein muss, dem man Macht anvertrauen kann.

Wie sich die Geschichte wiederholt.
Aber - natürlich, die letzten 2000 Jahre sind nun mal nicht spurlos an der gesellschaftlichen Entwicklung vorbeigegangen - irgendwie ist auch alles anders. Zumindest in den Details.

Das Grundmuster aber ist in der Tat dasselbe, Sloterdijk stellt es schön dar.
Mehrere Faktoren erklingen als Accord, bedingen einander, resonieren, verstärken sich und können daher nicht isoliert betrachtet werden, dennoch muss man sie einzeln ansehen.
Zum einen ist da die Entpolitisierung der Bevölkerung.
Die Ära Kohl steht für mich voll unter diesem Aspekt, die aktuelle Kanzlerin erweist sich immer und immer wieder als seine wahre Erbin in dieser Sache.
Ein anderer Aspekt ist der Verlust der Ehre. Auf allen Ebenen.
Sloterdijk spricht von Stolz, ich von Ehre. Klingt pathetisch.
Ist es!
Soll es auch sein, denn das mag altmodisch klingen, unmodern.
Was wohl wahr ist, es ist nicht modern. Schön, dass Sloterdijk es wagt, auch die emotionale (thymotisch nennt er es und tatsächlich ist dieser Begriff ganz leicht anders) Seite des Menschen in die Diskussion zu bringen.

Die Aufklärung und ihre Nachbeben lassen uns gelegentlich in dem Irrglauben zurück, dass das Ablegen der Emotion ein „Hinauswachsen“ ist. Ein Besser Werden. Besser sein.
Und wer wollte nicht ein besserer Mensch sein?

Abe wenn wir genau hinsehen, dann ist ein Mensch ohne Emotion ein Nicht-Mensch. Solche Personen werden auch schnell Unmenschen.

Das Gefühl der Ehre geht schnell hops, es ist wohlfeil, also für wenig Geld zu haben.
Die Moral mancher Leute hat man in den 80er beschrieben mit „der würde seine Grossmutter in die Sklaverei verkaufen“.
Einen Ivy-League-MBA, der das heute tun würde, würden seine Kollegen natürlich auslachen: jeder weiss doch, dass man sowas nicht tut, weiss, dass man die Oma organweise verkauft, Leber, Nieren, Herz, Lunge, Haut, getrennt. Das bringt nämlich viel mehr ein als eine Sklavin auf dem Markt je erzielen würde. Und nur darum kann es gehen, Maximierung des Profits, richtig?

Das tragische an Sloterdijk ist, dass er dieser „Leistungs-“Logik offenbar verfallen ist, gleichzeitig aber klar erkennen kann - wie der Spiegel-Artikel zeigt - wo der Hund begraben liegt.
Die Ausschaltung der Ehre in der Politik, in der Finanzwelt, in der produktiven Wirtschaft.
„Pfeffersäcke“ ist die klassische, nicht besonders schmeichelhafte Bezeichnung für die reichen Kaufleute, die tatsächlich mit Gewürzhandel ihr Vermögen gemacht haben. Die Fernsehserie Hagedorns Tocher wirft einen Blick auf die Nachwehen dieser glorreichen Zeit in den 90ern (Felmy ist gut, aber Anja Kling ist in dieser Glanzrolle einfach umwerfend. Und die Story ist auch schön).
Die hansischen Kaufleute lebten und arbeiteten nach einem Ehrenkodex, der letztlich allen nützte. Weil er erlaubte, Parasiten herauszuhalten.

Ich habe neulich schon einmal in einem anderen Kontext darüber schwadroniert, wo in unserem Land die Schmarotzer sitzen, wo die Menschen sind, die für Nicht-Leistung Geld verlangen und auch bekommen.

Es gab in Deutschland mal einen Ehrenkodex.
Ein grossartiger Mann und Unternehmer - er ist über 70 - sagte mir einmal, das erste, was er als junger Mann in der Banklehre zu hören bekommen hat, war „an fremdem Geld hängt der Teufel“. Will sagen: mit fremdem Geld spekuliert man nicht. Mit deinem eigenen Geld kannst du machen, was du willst, nicht mir Kundengeldern.
Schauen wir uns an, wie das heute aussieht: da wird im Casino mit Kundengeldern gezockt, oh Verzeihung, nicht im Casino sondern an der Börse.
Sehr ehrenwert.

Aber für Ehre kann man sich nichts kaufen, nicht wahr?
Und nur darauf kommt es ja an.

Die Wutbürger, die im Moment nur an der Oberfläche ihres Zornes, ihrer Wut und eben ihres verletzten Bürgerstolzes kratzen und sich gegen Stuttgart21 auflehnen, sie wissen es wohl noch nicht, aber sie sind Piraten.

Sie lehnen sich auf gegen eine Obrigkeit, die sie einfach nur als lästig empfindet.
Wer einmal selbst erleben will, wie lästig man als miese kleine Ratte ist, der melde sich in Berlin arbeitslos und lande beim „Job-Center“ in Mitte. Verglichen damit sind die Warteschlangen und ewiges Rumsitzen, während ein Amtsverweser einen Stempel sucht, bei der Zulassungsstelle echte Lichtblicke der Freundlichkeit und Bürgernähe in der Verwaltung.

Sloterdijk hat recht: das Spiel, das die Regierung spielt, ist riskant.
Er schreibt
Mit einem Mal steht er wieder auf der Bühne - der thymiotische Citoyen, der selbstbewusste, informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die misslungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im aktuellen politischen System.

Zu Recht fordern immer mehr Bürger, dass sie nicht ausgeschlossen werden vom politischen Prozess, dass sie nicht nur als Stimmvieh betrachtet werden, das sich ansonsten rauszuhalten hat.

Zu Recht werden immer mehr Bürger zu Piraten im Herzen.

Nun muss es nur noch der Piratenpartei gelingen, diese Menschen als Wähler zu aquirieren, dann führt der Weg der Piraten in die Parlamente.
Aber die Piraten wollen das aktuell nicht - so ist meine Einschätzung.
Denn die Piraten, allen voran die führenden Köpfe der Partei, beginnen, die Verantwortung zu spüren, die das mit sich bringt, die sie schon jetzt als politische Speerspitze der Re-Demokratisierungsbewegung tragen.
Dieser Last ist bei den Piraten derzeit niemand gewachsen und alle, die es behaupten, sind Leute, denen nach de oratore aber auch nach vielen anderen Massstäben auf keinen Fall Macht anvertraut werden kann.
Zugegeben: ich habe da eine oder zwei Ausnahmen getroffen, aber keiner dieser Personen räume ich innerhalb der aktuellen piratischen Struktur eine Chance ein.
Mein Optimismus der letzten Wochen und Monate ist einmal mehr dahin, der Parteitag nächste Woche wird höchstwahrscheinlich meine schlimmsten Vermutungen noch toppen.
Oder eben nicht, wir werden sehen.


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Politik